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Interview“Dieser Vorwurf ist alt und überholt!”

Nach dem Vorabbericht der STIKO zur Grippeimpfung haben sich viele verwundert die Augen gerieben. Im Interview erklärt Prof. Eva Hummers, stellvertretende Vorsitzende der Kommission, wie die neue Empfehlung entstanden ist, was sie von Rabattverträgen hält und ob die STIKO von den Interessen der Hersteller geleitet ist.

Frau Professor Hummers, Sie sind nicht nur Vizepräsidentin der DEGAM, sondern auch stellvertretende Vorsitzende der STIKO. Deren jüngster Vorabbericht zur neuen Influenzaimpfempfehlung hat für einige Verwirrung gesorgt. Künftig soll der Vierfachimpfstoff bevorzugt werden. Erklären Sie uns: Warum kam Ihr Update mitten in der laufenden Impfsaison?

Zunächst einmal haben sich die Anzeichen verdichtet, dass der Vierfachimpfstoff eine bessere Schutzwirkung gegen Influenza-Erkrankungen und dadurch verursachte Krankenhauseinweisungen bietet. Außerdem gibt es gute Gründe für diesen Zeitpunkt: Die Hersteller beginnen bereits im Februar mit der Produktion der Impfchargen für die kommende Saison. Auch der G-BA …

… der Gemeinsame Bundesausschuss von Ärzten, Kliniken und Krankenkassen.

Genau, auch dort hat man sich eine frühere Information von uns gewünscht. Wie Sie wissen, entscheidet der Ausschuss auf Basis unserer Empfehlungen, welche Impfungen von den Kassen als Pflichtleistung übernommen werden. Deswegen kommt unsere Veröffentlichung eigentlich zur idealen Zeit. Auch als impfende Ärztin hilft mir übrigens eine frühe Information, um mich rechtzeitig auf die kommende Saison einstellen zu können.

Aber Sie müssen doch zugeben, dass ein Update der Empfehlungen inmitten einer Grippesaison für manche Ihrer Kollegen irritierend sein muss. Da ergibt sich das Bild, dass sich die Evidenzlage ad hoc verändert haben muss.

Diese Verwirrung kann man vermutlich nie ganz verhindern, auch wenn klar dabeisteht, dass die Empfehlung erst ab der Veröffentlichung im Epidemiologischen Bulletin, in Ausgabe 2/2018, gilt. An einem Punkt aber muss ich Ihnen widersprechen: Die neue Empfehlung kam nicht ganz aus heiterem Himmel. Die Protokolle der STIKO stehen im Internet. Dort ist nachzulesen, dass bereits im März und Juni eine Beschlussvorlage zu quadri- versus trivalenten Impfstoffen erstellt und diskutiert wurde. Und nein, es sind natürlich nicht plötzlich neue Studiendaten vom Himmel gefallen. Allerdings ist deren Bewertung kein spontanes Unterfangen, das man mal so nebenbei macht. Hinter jeder Empfehlung der STIKO steckt ein aufwändiger, systematischer Bewertungsprozess.

In der neuen Empfehlung präferiert die STIKO die inaktivierten quadrivalenten Influenzavakzinen vor den trivalenten Impfstoffen. Bislang hatte sie beide gleichrangig empfohlen. Welche Evidenz steht hinter der neuen Empfehlung?

Details kann ich Ihnen vor der Veröffentlichung der wissenschaftlichen Begründung nicht verraten. Vielleicht aber so viel: Zwar gibt es keine direkten Vergleichsstudien, die Zusammenschau der Daten zur Epidemiologie und zur Wirksamkeit der Impfstoffe weist jedoch überzeugend auf einen Vorteil für Vierfachimpfstoffe hin. Das ist schon deswegen plausibel, weil sie mit einem zweiten Influenza-B-Stamm mehr Serotypen abdecken.

Diese Rationale war aber auch schon im Sommer bekannt.

Ja, da befand sich ein Beschlussentwurf auch bereits im sogenannten Stellungnahmeverfahren, in dem “betroffene Fachkreise”, also unter anderen Fachgesellschaften, die obersten Landesgesundheitsbehörden, der G-BA, einen Beschlussentwurf kommentieren können. Diese Kommentare fließen dann in die Diskussion zur endgültigen Beschlussfassung ein. Aber auch die vorhergehende Aufarbeitung der Evidenz gemäß der STIKO-SOP und die Formulierung und Diskussion einer Beschlussvorlage brauchen Zeit.

Zur Erklärung: In der STIKO-SOP ist standardisiert, wie die Impfempfehlungen erstellt werden. Die Beschlussvorlage, sagen Sie, gab es schon im Frühjahr. Warum wurde sie dann nicht gleich für die aktuelle Saison veröffentlicht?

Die Änderung einer Impfempfehlung erfolgt eben nicht “einfach mal so”. Die STIKO-Geschäftsstelle und die Mitglieder müssen Literatur sichten, epidemiologische Daten auf Deutschland übertragen und den Effekt ermitteln, den eine Impfempfehlung voraussichtlich haben wird. Auf Basis der vorhandenen Evidenz haben wir eigene Modellierungen und Hochrechnungen erstellen lassen. Mit dem Resultat, dass die Vierfachimpfstoffe hierzulande sehr wahrscheinlich deutlich mehr Influenzaerkrankungen und Krankenhauseinweisungen verhindern könnten. Diese Daten waren dann in den Beschlussentwurf vom Frühjahr eingegangen. Der hat hernach das Stellungnahmeverfahren durchlaufen, und dessen Rückmeldungen wurden jetzt vor dem endgültigen Beschluss diskutiert.

Das heißt, Ihre Empfehlung basiert maßgeblich auch auf Annahmen und Arithmetik. Wie muss man sich so ein Rechenmodell vorstellen?

Grob vereinfacht gesagt stellen wir uns die Frage: “Wie wären vergangene Grippewellen verlaufen, wenn wir auf Basis der vorliegenden Studiendaten mit quadrivalente Vakzinen geimpft hätten?” Aus Studien recherchieren wir die verfügbare Evidenz, vor allem die Schutzwirkung für verschiedene Impfungen in verschiedenen Saisons und bei verschiedenen Influenzastämmen. Dann schauen wir uns die vergangenen Grippewellen in Deutschland an, vor allem welche Subtypen damals zirkulierten. Mit all diesen Daten wird ein Modell erstellt, das verschiedene Szenarien testet. Zum Beispiel können wir über mehrere Saisons einmal eine höhere und einmal eine geringere Impfrate mit einem Vierfachimpfstoff unterstellen, oder andere Erregerstämme, oder andere Übertragungsannahmen. Und in diesen Berechnungen haben die inaktivierten Vierfachimpfstoffe eine bessere Schutzwirkung gezeigt.

In welchem Ausmaß könnten Vierfachimpfstoffe Hospitalisierung und Erkrankungen verhindern?

Laut unseren Modellen könnte die Zahl influenzabedingter Arztkontakte bis zu 380.000 pro Saison sinken. Außerdem könnten wir bis zu 1.800 Krankenhauseinweisungen vermeiden.

Das sind aber Vermutungen, richtig?

Wenn Sie so wollen, sind sie das immer. Auch die jährliche Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation für die Antigenkombination in den Impfstoffen hat immer eine gewisse Unsicherheit. Außerdem kann die Influenza von Saison zu Saison eine ganz unterschiedliche Transmissionsdynamik haben. Unterm Strich ist die Impfung aber immer noch die beste Präventionsstrategie, die wir haben.

Nicht nur unter Allgemeinmedizinern gibt es kritische Stimmen, denen die Schutzwirkung der Influenzaimpfung nicht ausreichend bewiesen ist. Was sagen Sie diesen Kollegen?

Gegenfrage: Was haben wir denn sonst? Auch wir hätten gerne mehr Daten aus großen randomisierten, kontrollierten und bestenfalls doppelblinden Studien, die während echter Grippewellen durchgeführt wurden. Aber schon den Versuch, die Impfung mit einem Placebo zu vergleichen, bekommen Sie wahrscheinlich von keiner Ethikkommission genehmigt. Dafür ist die Schutzwirkung der Vakzinen wiederum zu gut belegt, als dass es ethisch vertretbar wäre, sie während einer Influenzasaison den Probanden in der Kontrollgruppe vorzuenthalten.

Auch von Kassenseite erntet die STIKO gerade Kritik: Ihre neue Empfehlung könne zu Lieferproblemen führen, heißt es dort. Sie hätten weniger die Versorgung als vielmehr die Interessen der Hersteller im Blick. Harter Tobak!

Dieser Vorwurf ist alt und überholt! Ganz klar steht die Versorgung im Vordergrund und nicht das Interesse der Hersteller. Schon seit längerem machen wir unsere Interessenskonflikte transparent. Übrigens müssen bei Abstimmungen diejenigen Mitglieder den Raum verlassen, bei denen auch nur der Anschein einer Befangenheit entstehen könnte.

Zu guter Letzt wird es pekuniär: Einige Krankenkassen haben noch bis Mitte 2019 Rabattverträge über trivalente Impfstoffe. Verordnen Ärzte dann STIKO-konform – gesetzt, der G-BA übernimmt die Empfehlung in seine Schutzimpfungsrichtlinie – laufen sie schnell Gefahr, in ein Prüfverfahren hineinzurutschen. Daher an die Hausärztin Eva Hummers gefragt: Wie würden Sie in dieser Situation impfen?

(seufzt). Bei dem Thema stellen sich mir die Nackenhaare auf. Ich würde vermutlich auch bei diesen Patienten, deren Kasse noch einen alten Rabattvertrag hat, nach der Richtlinie des G-BA impfen. Um sicher zu gehen, würde ich wohl in der Patientenakte einen Vermerk machen, warum ich in jedem Einzelfall so entschieden habe. Ob uns das im Zweifelsfall vor einem Prüfverfahren schützt, weiß ich aber auch nicht.

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