Frage: Hausarzt A. führt eine überdurchschnittlich große Praxis. Am Abend eines langen Arbeitstages stößt er noch einmal auf die Akte einer Patientin, die er heute nach einem kurzen Gespräch krankgeschrieben hat. Die Patientin hatte ihn auffällig schnell nach einem “gelben Schein” gefragt. Im Nachhinein fragt er sich, ob eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wirklich erforderlich gewesen wäre – und welche Konsequenzen bei einem fehlerhaften Ausstellen überhaupt drohen könnten.
Antwort: Das ordnungsgemäße Ausstellen von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen richtet sich nach der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Rechtsgrundlage für diese ist Paragraf 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 7 SGB V.
Vertragsärzte sind bei der Ausstellung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für gesetzlich versicherte Arbeitnehmer an die Vorgaben dieser Richtlinie gebunden und haben für die Ausstellung die entsprechenden Vordrucke zu verwenden. Für ausschließlich privatärztlich niedergelassene Ärzte gelten die Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie nicht unmittelbar. Sie dürfen die Vordrucke nicht verwenden und müssen ein freies Attest ausstellen. Doch auch dieses muss – wie in Paragraf 5 Entgeltfortzahlungsgesetz (EntgFG) vorgegeben – das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit (AU) und die Dauer der Erkrankung beinhalten. Wird ein freies Attest für einen gesetzlich versicherten Patienten ausgestellt, so muss es einen Vermerk enthalten, dass die Bescheinigung über die AU der Krankenkasse durch den Patienten übersandt wird.
AU-Feststellung: Persönlicher Kontakt nötig
Zunächst muss der Zustand der AU beim Patienten festgestellt werden. Dabei haben Ärzte den körperlichen, geistigen und seelischen Gesundheitszustand gleichermaßen zu berücksichtigen. Deshalb darf die Feststellung nur aufgrund ärztlicher Untersuchung erfolgen (Paragraf 4 Abs. 1 S. 2 der Richtlinie). Nur in Ausnahmefällen kann dem hohen Sorgfaltsmaßstab, der an die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit geknüpft ist, allein durch eine ärztliche Untersuchung im Sinne einer reinen – auch fernmündlichen – Befragung genüge getan sein. Diese Abwägung obliegt dem Arzt und kommt ggf. dann in Betracht, wenn ein Patient beispielsweise viele Jahre schon bekannt ist. (*Diese Passage war in der ursprünglich erschienenen Fassung fehlerhaft. Nach der Rückmeldung eines aufmerksamen Lesers wurde die Auslegung des Paragrafen durch die Autorin korrigiert. Dies hat die Redaktion auch im pdf entsprechend in gekürzter Fassung übernommen.)
Cave: Vor diesem Hintergrund ist auch die “telefonische Bestellung” und anschließende Abholung der Bescheinigung durch einen Familienangehörigen nicht möglich.
Die Feststellung erfordert aufgrund ihrer Tragweite für Versicherte und ihrer arbeits-, sozialversicherungsrechtlichen und wirtschaftlichen Bedeutung laut AU-Richtlinie besondere Sorgfalt. Aber auch die Berufsordnungen mahnen zur notwendigen Sorgfalt bei der Ausstellung ärztlicher Gutachten und Zeugnisse (vgl. Paragraf 25 der Muster-Berufsordnung Ärzte), wozu auch die AU-Bescheinigung zählt.
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Haftungsrisiken: Verweis und Geldbuße drohen
Das Ausstellen falscher AU-Bescheinigungen kann für Ärzte weitreichende Folgen – sogar bis hin zur Entziehung der Approbation – haben. So hat etwa das Verwaltungsgericht München (VG München, Urteil vom 22. Juni 2010 – M 16 K 10.839 –) die Entziehung der Approbation eines Arztes, welcher falsche AU-Bescheinigungen in betrügerischer Absicht über einen längeren Zeitraum ausgestellt hat, bestätigt. Der durch die falschen AU-Bescheinigungen entstandene Schaden lag bei rund 30.000 Euro. Wenngleich der diesem Urteil zugrundeliegende Sachverhalt aufgrund des vorsätzlichen Handelns eine drastische Ausnahme darstellt, ist ersichtlich, dass die Verpflichtung zur besonderen Sorgfalt bei der Ausstellung von AU-Bescheinigungen ernst zu nehmen ist.
Verstöße können berufsrechtliche Maßnahmen wie Verweis und Geldbuße nach sich ziehen. In zivilrechtlicher Hinsicht können zudem Ersatzansprüche des Arbeitgebers oder der Krankenversicherung drohen, wenn beispielsweise ein Arbeitgeber durch die richtlinienwidrige Erteilung einer AU-Bescheinigung einen Schaden erleidet.
Dauer: Rückdatierung nur als Ausnahme
Aus der Verpflichtung zur ärztlichen Untersuchung zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folgt auch, dass die Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich nicht für eine vor der ersten ärztlichen Inanspruchnahme liegende Zeit bescheinigt werden soll. Eine Rückdatierung auf einen vor dem Behandlungsbeginn liegenden Tag darf nur ausnahmsweise erfolgen, maximal jedoch für drei Kalendertage und nur nach gewissenhafter Überprüfung, ob eine Erkrankung vorlag. Eine Rückdatierung darüber hinaus ist nicht zulässig.
In der Bescheinigung ist die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit anzugeben. Diese soll dabei nicht für einen mehr als zwei Wochen im Voraus liegenden Zeitraum bescheinigt werden. Ist es aber aufgrund der Erkrankung oder eines besonderen Krankheitsverlaufes sachgerecht, kann die Arbeitsunfähigkeit auch bis zur voraussichtlichen Dauer von einem Monat bescheinigt werden (Paragraf 5 Abs. 4 der Richtlinie). Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als in der Erstbescheinigung angegeben, so ist nach erneuter Untersuchung und Prüfung der aktuellen Verhältnisse eine Folgebescheinigung auszustellen – bei gleichbleibender Diagnose.
Cave: Folgt unmittelbar auf die erste Arbeitsunfähigkeit eine zweite Arbeitsunfähigkeit mit einer anderen Diagnose, so ist dann eine Erstbescheinigung auszustellen.