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DEGAM-Leitlinie zu Über- und Unterversorgung Wenn weniger mehr ist

Die DEGAM sagt der Überversorgung den Kampf an - mit einer Leitlinie und der deutlichen Forderung nach einem hausärztlichen Primärarztsystem. PLUS: Exklusiv-Interview mit DEGAM-Präsident Prof. Martin Scherer zur Umsetzung im Praxisalltag.

Dose mit Tabletten - doch sind sie für den Patienten wirklich alle indiziert?

Berlin. Patienten mit Koronarer Herzerkankung (KHK), die einerseits zu oft einen Stent, andererseits zu selten eine gut eingestellte Medikation erhalten. Hobby-Sportler, die Montagmorgens mit einer leichten Verstauchung im Wartezimmer sitzen – mit der Bitte um eine MRT-Überweisung, von der Notfallambulanz aufgetragen, und schwerkranke Krebspatienten, die zwar eine Chemotherapie, nicht jedoch eine psychoonkologische Betreuung erhalten. Beispiele für eine nebeneinander vorkommende Über- und Unterversorgung im hausärztlichen Alltag finden sich zuhauf. „Hausärzte müssen ihre Patienten vor Überversorgung schützen“, betonte vor dem Hintergrund dieser Beispiele Prof. Martin Scherer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Die entsprechende S2e-Leitlinie zum Schutz vor Über- und Unterversorgung solle Hausärzten „Sicherheit“ in diesem immer wichtiger werdenden Feld der Patientenversorgung geben.

Veröffentlicht hatte die DEGAM ihren Überblick zu Maßnahmen gegen Über- und Unterversorgung bereits im Juni. Daran anschließend, betonte Scherer am Donnerstag (19. November), gelte es nun den entsprechenden gesellschaftlichen und politischen Diskurs anzustoßen. Denn die Rahmenbedingungen erlaubten es Hausärzten aktuell nicht, entsprechend zu wirken. „Wir brauchen ein hausärztliches Primärarztsystem“, skizzierte er die einzige Lösung. So bliebe die freie Arztwahl erhalten, jedoch sei der Zugang zur nächsthöheren Versorgungsebene nur über den Hausarzt zu erreichen. „Wie es aktuell läuft, ist keine gute Medizin.” Die Hausarztzentrierte Versorgung (HZV), für die sich der Deutsche Hausarzteverband seit Jahren starkmacht, sei der „richtige Weg“, betonte Scherer in Berlin.

Klares Bekenntnis zu Evidenz statt “Innovatiönchen um Innovatiönchen”

An Dringlichkeit gewinne diese Forderung angesichts der Innovations-Getriebenheit von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Wenn beispielsweise Gesundheits-Apps, die ab kommendem Jahr Kassenleistung werden, einen weiteren Weg in die Versorgung – auch am Hausarzt vorbei – öffneten, so verschärfe dies die Problematik. Es gehe darum, bewährtes Wissen – etwa die Notwendigkeit eines Rauchstopps – voranzutreiben und nicht „Innovatiönchen um Innovatiönchen“ hinterherzujagen. „Wir müssen die Prioritäten im Gesundheitswesen geraderücken.” Von der Politik wünsche er sich dazu ein klares Bekenntnis zu evidenzbasierter Medizin (EbM).

Die parallele Inanspruchnahme verschiedener Versorgungsebenen weckt nicht zuletzt Patientenerwartungen (s. Interview). Die Leitlinie soll – im Rahmen des im hausärztlichen Alltag Möglichen – einen praktischen Leitfaden an die Hand geben, damit der Hausarzt in den „Aushandlungsprozess“ mit seinem Patienten eintreten kann, so Dr. Dagmar Lühmann, Leitlinien-Autorin und Vize-Vorsitzende des EbM-Netzwerks. Es gehe nicht darum, „top down“ gewünschte Therapien auszureden, sondern gemeinsam mit dem Patienten evidenzbasierte Medizin zu leben.

Dazu haben die Autorinnen und Autoren der Leitlinie 26 Empfehlungen aus bereits veröffentlichten Leitlinien zu bestimmten Krankheiten – Halsschmerzen, Husten, Müdigkeit, Brustschmerz, Demenz, alkoholbezogene Störungen, Prävention von Hautkrebs, Prostatakarzinom, Kreuzschmerz und unipolarer Depression – gegeben.

  • 21 der Empfehlungen thematisieren Überversorgung, z. B. Antibiotika oder den Einsatz von Medikamenten ohne nachgewiesenen Zusatznutzen.
  • 5 Aspekte adressieren Unterversorgung, z. B. gezieltes Case Finding bei Depressionenoder das Erfragen des Raucherstatus bei Husten.

Dabei handelt es sich um die erste „Living guideline“, erinnerte Dr. Cathleen Muche-Borowski von der Ständigen Leitlinien-Kommission. Sprich: Werden Ursprungsleitlinien aktualisiert, sollen Änderungen zeitnah eingearbeitet werden. Darüber hinaus werde sich die Kommission weiteren Nationalen Versorgungsleitlinien annehmen und diese screenen; dabei gebe es noch keine feste Themenliste der nächsten Vorhaben.

Tipp: „Bitte keine IGeL“ auf Überweisungsschein

Ein Problem im hausärztlichen Alltag sei über den Zeitdruck hinaus, dass man oft erst später von überversorgenden Schritten erfahre, skizzierte Dr. Hans-Otto Wagner. Als Beispiel nannte der Landarzt und Leitlinien-Autor eine Überweisung seines Patienten an den Augenarzt, der dann zunächst den Augeninnendruck als Individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) empfohlen habe. Er schreibe in solchen Fällen, etwa wenn es sich wie im skizzierten Beispiel um einen Patienten mit bekannt niedrigem Einkommen handele, durchaus auch mal „Bitte keine IGeL“ auf den Überweisungsschein. Das verärgere mitunter zwar den Kollegen. Aber: „Andernfalls breitet sich die Medizin ohne Augenmaß aus.” So seien “Methoden mit zweifelhaftem Nutzen” heute bereits weit verbreitet, der Hausarzt sei in Versorgungswege oft kaum mehr involviert.

Opfer dieser Überversorgung, betonte DEGAM-Präsident Scherer, seien meist ängstliche oder depressive Patienten sowie Menschen mit psychosomatischen Beschwerden.

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