Forum PolitikWahlgespräche in der Hausarztpraxis

Im September entscheidet sich, welchen Kurs die Gesundheitspolitik einschlägt. Oft diskutieren darüber nur Funktionäre und Politiker. Vor der Bundestagswahl hören wir uns daher bei Allgemeinmedizinern aus Stadt und Land um, was ihnen unter den Nägeln brennt. Ein Stimmungsbild aus der Praxis.

„Die Gesellschaft wird es teuer bezahlen“

Noch rasch stellt er die Tasche ab, zieht die leuchtend rote Jacke aus: Gerade erst kehrt Dr. Andreas Durstewitz von einem Hausbesuch zurück. 2006 hat der Allgemeinmediziner die Praxis in Pullach, am südlichen Rand Münchens, übernommen. In der Lehrpraxis arbeiten zwei Ärztinnen in Weiterbildung und zwei MFA. Mit zwei weiteren Hausärzten, zwei Pädiatern und ein paar Fachärzten für Orthopädie, HNO und Gynäkologie versorgt Durstewitz die rund 9.000 Einwohner der Gemeinde.

Ihre Praxis liegt in einer der reichsten Gemeinden der Republik. Ihnen muss es hier blendend gehen, oder?

Dr. Andreas Durstewitz: Ich als Hausarzt bin zufrieden. Mein Beruf ist großartig, abwechslungsreich und ich muss als Freiberuflicher nicht fremdbestimmt arbeiten. Aber: Es gibt immer weniger Hausärzte, das merken die Patienten. Einige haben ein so schlechtes Gewissen, dass sie uns für unser Engagement Schokolade, Wein etc. mitbringen, egal wie arm sie teilweise sind. Wie kann die Politik das zulassen? Immerhin ist es ihr Recht, vom Arzt behandelt zu werden. Man merkt, dass die Interessen von 82 Millionen Patienten zu schlecht organisiert sind. Bei der Digitalisierung etwa verliert die Politik die Alten aus dem Blick: Um Daten auf die E-Card zu speichern, muss der Patient eine sechsstellige PIN eintippen. Weil er dement ist, kann er das nicht – das verursacht dann schlimmstenfalls einen Stau in der Praxis.

Gesundheitspolitik sollte man also mehr vom Patienten her denken?

Ja. Ein Beispiel, die Schnittstelle ambulant- stationär macht große Probleme. Viele Patienten werden freitags „ blutig“ entlassen, teils liegt noch die Drainage und die Nadel hängt raus! Also erkläre ich ihnen erstmal eine Stunde, wie es weitergeht, stelle die Medikation um, weil die verordneten Arzneien oft nur für die Klinik passen. Dann noch rasch in die Apotheke, bevor sie schließt. Viel besser wäre es doch, man könnte einen Berater zum Entlassgespräch hinzuziehen – das decken KV und PKV bisher nicht ab. Patienten sind also auf den guten Willen des Hausarztes angewiesen. Letztlich ist keiner bereit, Strukturen zu ändern. Die Parteien zum Beispiel liefern nur Ideen, wie mehr Geld ins System kommt. Keiner schlägt vor, wie mit sinnvollen Strukturen Geld gespart werden könnte. Denn natürlich wollen sie Behandlungen nicht rationieren. Stattdessen bekommt jeder Patient alles. Die Eigenverantwortung, von der Politiker gerne sprechen, ist ein reines Lippenbekenntnis.

Wie könnte man die Eigenverantwortung stärken?

Zugegeben, das Gesundheitswesen ist so komplex, dass es nie einfache Lösungen gibt. Aber man kann für Patienten finanziell Anreize setzen, medizinische Leistungen gezielter in Anspruch zu nehmen, wenn sie sie wirklich benötigen. So braucht man nicht von jedem Knie vor und nach einer Op eine MRT, diese Überdiagnostik findet aber statt.

Sie denken an eine Gebühr für die Inanspruchnahme?

Wir hatten ja schon einmal die Praxisgebühr. Die zehn Euro waren aber wie eine Flatrate. Die Patienten gingen also erst recht zum Arzt, wenn sie einmal bezahlt hatten. Die Schweden zahlen zum Beispiel 30 Euro für jeden Besuch – jeden.

Wer sich das nicht leisten kann, dem hilft die Gemeinschaft, dafür gibt es Belastungsgrenzen. Natürlich darf Armut kein Grund sein, nicht zum Arzt zu gehen, wenn man krank ist.

Statt nur Mittel zu erhöhen, sollte man das System „entschlacken“? Wie?

Beispiel Bereitschaftsdienst: Das ist eine überholte Struktur. Es gibt immer mehr Ärztinnen. Wie können wir es Müttern von kleinen Kindern zumuten, mitten in der Nacht etwa zu einem psychiatrischen Patienten in einer womöglich zwielichtigen Gegend zu fahren? Warum kann der Patient nicht zum Arzt in eine Notdienstpraxis kommen – mit einem Taxi, Nachbarn oder Fahrdienst?

Dort könnte man ihn qualitativ besser versorgen, weil die Geräte vorhanden sind und nicht nur ein Arztkoffer. Gleichzeitig würde die Zeit des Arztes effizienter genutzt. Patienten, die nicht fahren können, sind meist eh ein Fall für ein Notarzt-Team. Die Gemeinden könnten solche Praxen finanzieren, stellen Räume und Ausstattung, weil es eine gesellschaftliche Aufgabe ist. Sie wären also steuerlich finanziert – und nicht wie bisher allein von Versichertenbeiträgen und ärztlichen Unternehmern.

Stichwort Qualität: Wie können Sie die beste Medizin für Ihre Patienten leisten?

Es gibt verschiedene Facetten. Qualität braucht Geld, damit in der Praxis die Basisdiagnostik vorhanden ist. Wir besitzen ein Spirometer, Seh- und Hörtest- Geräte etc. Zudem braucht es eine gute Infrastruktur – es gibt aber kaum gute und bezahlbare Praxisräume. Die Gemeinde unterstützt uns hier nicht. Wir Fachärzte haben der Bürgermeisterin vorgeschlagen, ein Grundstück zur Verfügung zu stellen, um ein Ärztehaus zu bauen. Sie lehnte ab, wir seien doch Unternehmer und müssten uns das selbst beschaffen. Sie will dort lieber ein Jugendzentrum bauen, für die Jugend, die gar nicht hier wohnt. Wir haben vor allem eine alternde Bevölkerung. Auf dem Land haben Gemeinden schon eher verstanden, dass es ihre Aufgabe ist, den Rahmen zu schaffen, damit sich Menschen ansiedeln. Wir wissen doch: Ist der Arzt weg, stirbt der Ort.

Die Politiker haben zu lang die Augen verschlossen…

Richtig. Statt rechtzeitig zu unterstützen, beginnt die Politik jetzt, Hilfsberufe zu akademisieren. Damit sinkt die Qualität. Gäbe es genug Ärzte, würden diese Ideen nicht entwickelt! Ähnlich bei der Telemedizin. Die fördert die Politik gerade nur so stark, weil es zu wenige Ärzte gibt. Ein Mangel führt also zu „Innovationen“, deren Qualität mitunter fragwürdig ist. Freilich bringt die Digitalisierung auch viel Positives, wenn die richtigen Gründe dahinter stehen.

Sollten Kommunen Daseinsfürsorge neu interpretieren und Ihre Ärzte mehr unterstützen?

Gute Idee. Bei den Kliniken tragen die Gehälter ja auch die Kassen, die Infrastruktur zahlt der Staat. Wer seine Bürger versorgen will, stellt etwas auf die Beine. Sie werden sehen, das werden private Klinikketten jetzt forcieren. Sie eröffnen Satellitenpraxen und werben mich als Niedergelassenen ab. Behandlung und Organisation wären perfekt abgestimmt und kontrollierbar. Ich liefere denen dann die Operationen. Und: Es wäre billig. Aber: Die Gesellschaft wird auf Dauer einen sehr teuren Preis dafür zahlen! Heute ist meine Praxis der sperrige Tante Emma-Laden, bei dem man alles bekommt. Dafür bin ich schwer zu koordinieren und kontrollieren. Entscheidend ist: Bin ich wirtschaftlich frei, kann ich unabhängig entscheiden. Deswegen haben wir eine hohe Patientenzufriedenheit und Qualität. Andererseits macht man uns immer mehr Vorgaben, um uns zu kontrollieren. Ein Zwiespalt.

Was würden Sie ändern, wenn Sie Gesundheitsminister wären?

Mein Eindruck ist, es gibt zu viele Pseudoinnovationen bei Arzneien. Oft können Versprechen in der Realität nicht gehalten werden. Man müsste viel mehr epidemiologisch forschen. Parallel müssen wir gesellschaftlich darüber sprechen, wie wir die wenigen Ressourcen vernünftig einsetzen, zum Beispiel in innovativen Strukturen wie der HZV. Zweitens würde ich den Arztberuf attraktiver machen.

Den Arztberuf per se oder speziell den Hausarzt?

Den Arztberuf an sich. Denn egal wie man ein System organisiert, jeder braucht Hausärzte. Fraglich ist, ob die redundante Facharzt-Schiene stationär und ambulant oder die hohe Zahl an Kliniken wirklich nötig ist. Jedes Gerät ist doppelt, viele Untersuchungen auch. Zudem würde ich gemessen am Bruttoinlandsprodukt mehr Geld für Gesundheit ausgeben.

Die öffentlichen Gesundheitsausgaben machen laut OECD neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.

Ich würde den Steueranteil deutlich erhöhen, so dass das Gesundheitssystem nicht durch Beiträge von wenigen Arbeitern finanziert werden müsste. Die Gelder müssten aber im System bleiben. Es gibt keinen Grund, warum Gesundheit ein Geschäftsfeld ist, in dem Gewinne gemacht werden. Wenn die GKV Überschüsse erwirtschaftet, sollten sie wie bei Privatversicherten an die Mitglieder zurückfließen.

Lesen Sie dazu auch: "Ach, Sie sind ja auch Internist" – Wahlgespräche in der Hausarztpraxis

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