Hausarzt MedizinSchmerz: Aktivierung steht im Vordergrund

Akute und chronische Rückenschmerzen sind häufige und kostenintensive Erkrankungen. In der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz wurde deshalb vorgeschlagen, mit Rückenschmerzen anders als bisher umzugehen.

Chronischer Rückenschmerz lässt sich meist nicht (allein) auf einen spezifischen Krankheitsprozess mit definitiver körperlicher Ursache zurückführen. Dieser nicht-spezifische Charakter bedeutet aber nicht, dass es sich regelhaft um Schmerzen psychosomatischen Ursprungs handelt, sondern umschreibt lediglich, dass ernsthafte körperliche Erkrankungen als Ursache ausgeschlossen sind. Eine Annahme über andere Ursachen wird damit nicht getroffen, vermutlich handelt es sich in der ­Regel um schmerzhafte Funktionsstörungen [1].

Entscheidend ist, ob diese Schmerzen unter den Einfluss von emotionalen, kognitiven und Verhaltensfaktoren geraten, die den Verlauf nachhaltig bestimmen und letztlich die Aufrechterhaltung der Schmerzen übernehmen. Eine große klinische Herausforderung ist es dabei, dass diese Faktoren den Krankheitsverlauf auch bei spezifischen Ursachen der Rückenschmerzen bestimmen können. In beiden Szenarien bestimmt die Chronifizierung die klinische Symptomatik [2], mit körperlicher Dekonditionierung, psychischen Beeinträchtigungen (Angst, Depressivität), Veränderungen im Verhalten (Schon- und Vermeidungsverhalten), ungünstiger Krankheitsbewältigung sowie sozialen Konsequenzen (Arbeitsplatzverlust, sozialer Rückzug).

Bezüglich des Arbeitsplatzes zeigen Studien,­ dass weniger biomechanische Stressoren bedeutsam sind, sondern die subjektive Bewertung der Schwere der Arbeitstätigkeit. Auch die Wahrnehmung hoher Arbeitsanforderungen, Zeitdruck, das Erleben starker ­Kontrolle und geringer Autonomie sowie geringe Unterstützung durch Vorgesetzte haben sich als Faktoren der Aufrechterhaltung von Rückenschmerzen erwiesen.

Der weitere Verlauf ist oftmals ­entscheidend davon abhängig, was ein Betroffener über die Ursache seiner Beschwerden denkt sowie darüber, wie sie beeinflusst werden können und welches Verhalten ihn vor weiterem Schaden bewahrt. Diese letztlich individuelle Interaktion multipler Faktoren kann auch als „Schmerzgedächtnis“ im bio-psycho-­sozialen Sinn verstanden werden. Dies hat für den Patienten praktische und therapeutische Konsequenten, im Gegensatz zum Bild eines im eigenen Nervensystem „eingebrannten“ und „verselbstständigten“ Schmerz ohne körperliche Ursache.

Konsequenzen

Bei chronischen Rückenschmerzen reichen die Behandlungsprinzipien für akute Schmerzen wie Beratung über den (meist) gutartigen Charakter, Motivierung zu körperlicher Aktivität und Rückkehr zur Normalität nicht mehr aus. Problematisch sind auch Laien­theorien („da ist etwas kaputt“), die durch frühes und wiederholtes Röntgen, Injektionen und chirotherapeutische Manöver noch verstärkt werden können. Passive physiotherapeutische Maßnahmen, unkritische Polymedikation und Krankschreibung verstärken das Krankheitsgefühl und fördern die Aktivitätsintoleranz. Dazu kommt, dass diese Therapien meist (monomodal) nach- oder nebeneinander durchgeführt werden. Entsprechend lang ist die Liste nicht empfohlener Maßnahmen in der aktuellen nationalen Versorgungsleitlinie bei chronischem Kreuzschmerz (Tab. 1) [1], vor allem dann, wenn sie als monomodale Maßnahmen eingesetzt werden.

Die Rolle von Medikamenten

Die Wirksamkeit von ­Medikamenten beim chronischen Rückenschmerz wird kritisch gesehen, da eine ­geringe oder fehlende Wirkung nicht selten ­potenziellen Schäden gegenübersteht. Grundsätzlich gilt, unabhängig von der Wahl des Medikaments gemeinsam mit dem Patienten Ziele festzulegen, z.B. verbesserte Belastbarkeit, erleichterte Aktivierung, Schmerzlinderung um 30 bis 50 Prozent bei guter Verträglichkeit. Werden diese Ziele nicht erreicht, sollte die Medikation wieder beendet werden. Bei Fortführung der Medikation sollte die Wirksamkeit regelmäßig (alle 3 bis 6 Monate) kritisch geprüft werden.

Multidisziplinäres Assessment

Bei chronischen oder „anhaltenden“ akuten Rückenschmerzen mit alltagsrelevanten Aktivitätseinschränkungen und unzureichendem Therapieerfolg empfiehlt die nationale Versorgungsleitlinie, frühzeitig ein multidisziplinäres Assessment unter Einbeziehung ärztlicher/fachärztlicher, psychologischer und physiotherapeutischer Expertise durchzuführen [1]. Ein Beispiel für dieses Assessment ist im OPS-Code 1-190 festgelegt und wurde durch die Deutsche Schmerzgesellschaft detailliert beschrieben [3].

Neben dem Assessment in hochspezialisierten schmerztherapeutischen Einrichtungen kann der koordinierende Arzt z.B. auch in Form eines telefonischen Austauschs die Befunde zusammen mit den konsultierten Fachleuten (ärztlich, physiotherapeutisch, psychotherapeutisch) begutachten; eine entsprechende Vergütungsstruktur gibt es in der ambulanten Versorgung dafür jedoch bisher nicht.

Ziel des multidisziplinären Assessments ist das Festlegen des weiteren therapeutischen Vorgehens mit der Möglichkeit einer gezielten somatischen Therapie, der intensivierten ambulanten hausärztlichen/orthopädischen Behandlung, einer multimodalen Schmerztherapie (stationär oder teilstationär) oder einer Rehabilitation. Bei dieser Planung spielen natürlich die Angebote in regionalen Strukturen eine entscheidende Rolle.

Für den Patienten kann das Assessment eine sehr wichtige Funktion übernehmen. Die somatischen Aspekte werden kritisch und ausführlich gewürdigt, spezifische und nicht spezifische Anteile der Schmerzproblematik differenziert, ggf. noch fehlende Diagnostik identifiziert und komplettiert. Die psychologische Exploration ist keine nachgeschaltete Maßnahme, sondern gleichberechtigt zur somatischen Sichtweise, die physiotherapeutische Untersuchung kann funktionelle Aspekte der Schmerzproblematik identifizieren. In der Zusammenschau ergibt sich für den Patienten eine differenzierende Beurteilung mit hoher ­Akzeptanz der daraus abgeleiteten und gemeinsam festgelegten Empfehlungen.

Multimodale Therapie

Multimodale Therapiekonzepte ­haben zuletzt die Behandlung von Rückenschmerzen dominiert und sind durch Evidenz gesichert. Eine wesentliche wissenschaftliche Prämisse ist die Verlagerung des Behandlungsschwerpunktes von der symptomatischen Schmerzbehandlung (meist Fokus monomodaler Ansätze) hin zur Behandlung gestörter körperlicher, psychischer und sozialer Funktionen („functional restoration“). In einem individuell ­adaptierten Gesamtkonzept sind sport-, ergo-, physio- und psychotherapeutische sowie ärztliche Interventionen integriert, mit dem Ziel einer für den Patienten­ „richtigen und abgestimmten“ Mischung aus Beiträgen verschiedener Fachdisziplinen [4]. Bei der Indikationsstellung sind mögliche Zielkonflikte, z.B. ein laufender Rentenantrag, individuell zu berücksichtigen.

Weitere Verfahren

Eine Reihe von weiteren Verfahren haben ­einen (meist geringen) positiven Wirksamkeitsnachweis. Ihr Einsatz sollte sich aber grundsätzlich in ein multimodales Konzept einfügen, um in diesem Kontext ­zusätzliche Effekte erzielen zu können. Akupunktur ­wäre zu nennen, ebenso Massage zur Unterstützung aktivierender Interventionen, die Kombination von Edukation und Bewegung, Funktionstraining, progressive Muskel­relaxation, Ergotherapie, manuelle Therapie, Wärmetherapie, Rückenschule nach bio-­psycho-sozialem Modell und die kognitive Verhaltenstherapie [1].

Langzeitbetreuung beim Hausarzt

Der Hausarzt ist prädestiniert für eine ­koordinierende und steuernde Rolle in der Therapieführung und Langzeitbetreuung von Patienten mit chronischem Rückenschmerz. Eine zentrale Herausforderung ist dabei der Umgang mit „Verschlechterungen“ oder „neuen“ Schmerzen, die sich auf gezielte Nachfrage klinisch oft gut einordnen und erklären lassen. Das Beruhigen und die Identifizierung von Zusammenhängen im bio-psycho­-sozialen Kontext stehen somit im Spannungsfeld mit der Prüfung der Notwendigkeit neuer Diagnostik.

Überwachung und kritische Überprüfung der medikamentösen Therapie ist ein weiteres wichtiges Aufgabenfeld, ebenso die Begleitung bei anhaltender Arbeitsunfähigkeit, im Rentenverfahren oder bei der ­beruflichen Wiedereingliederung. Die Betreuung in diesen Aufgabenfeldern könnte von einer Verbesserung des inhaltlichen Austauschs und der Zusammenarbeit von Hausärzten und multimodalen Therapieeinrichtungen profitieren.

Fazit

  • Die Fokussierung auf eine monomodale Behandlung chronischer Rückenschmerzen­ (z.B. allein durch Medikamente) ist wenig wirksam, nicht sinnvoll und kann die ­Chronifizierung der Schmerzen begünstigen.
  • Mit einem multidisziplinären Assessment kann die Behandlung chronischer Rückenschmerzen trotz der Komplexität im Einzelfall differenziert beurteilt und gesteuert werden.
  • Dem Hausarzt kommt in der Langzeitbetreuung eine Schlüsselrolle mit vielfältigen Aspekten zu: Medikation, Komorbiditäten (wie Angst, Depression), soziale Situation, Nachhaltigkeit multimodaler Therapien.

Mögliche Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert.

Literatur

  • 1 Arnold B, Brinkschmidt T, Casser HR, et al. Multimodale Schmerztherapie für die Behandlung chronischer Schmerzsyndrome. Schmerz 2014;28(5):459-72. DOI: 10.1007/s00482-014-1471-x. Bundesärztekammer (BÄK); Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Fachgesellschaften (AWMF). Nationale VersorgungsLeitlinie Nicht-spezifischer Kreuzschmerz, 2. Auflage (2017) Im Internet: http://www.versorgungsleitlinien.de/themen/kreuzschmerz; Stand 1.03.2017
  • 2 Casser HR, Arnold B, Brinkschmidt T, et al. Interdisziplinäres Assessment zur multimodalen Schmerztherapie. Schmerz 2013;27(4):363-70. DOI: 10.1007/s00482-013-1337-7. Pfingsten M, Müller G, Chenot J. Vom Symptom zur Krankheit. In Hildebrandt J, Pfingsten M, Hrsg. Rückenschmerz und Lendenwirbelsäule. München. Elsevier; 2011: 103-113
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