ExperteninterviewSchmerz: Ist das Stufenschema der WHO noch aktuell?

Soll man eine Schmerztherapie angesichts der Risiken durch NSAR überhaupt noch mit Substanzen der WHO-Stufe 1 beginnen? Welche Alternativen gibt es? Was ist bei der Therapie mit Opioiden zu beachten? Antworten auf diese Fragen gibt der Schmerzspezialist Dr. med. Christoph Gerhard, Essen.

? Wegen der Risiken durch NSAR wird die Behandlung von Schmerzen immer häufiger nicht mehr mit einem peripher wirksamen Analgetikum der WHO-Stufe 1 begonnen, sondern mit einem Opioid der Stufe 2. Wie hoch sind die Risiken durch NSAR, insbesondere bei älteren Patienten?

Gerhard: Als grobe Faustregel kann gelten, dass von 1.000 Patienten, die ohne PPI mit einem NSAR behandelt werden, 100 gastrointestinale Beschwerden bekommen und zehn davon ein Ulkus, das in einem Fall zu einer tödlichen Blutung führt. Dazu kommt die kumulative Nephrotoxizität mancher NSAR, die nach langem Gebrauch zur Dialyse führen kann. Schließlich konnte gezeigt werden, dass NSAR das Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte unterschiedlich stark erhöhen, indem sie durch Hemmung der COX-2 die Thrombozytenaggregation steigern.

? Können Opioide der Stufe 2 wie Tilidin oder Tramadol diese Lücke schließen?

Leider nur bedingt. Bei Opioiden hängen die Nebenwirkungen – mit Ausnahme der Obstipation und der initialen Übelkeit – stark von der Schmerzstärke ab: Benommenheit bis zum Delir, Müdigkeit oder Atemdepression treten erst nach vollständiger Schmerzbeseitigung auf. Bezüglich der oft gefürchteten Atemdepression gibt es sogar einen sehr deutlichen Sicherheitsbereich von mindestens 150 Prozent der Opioiddosis, die zur vollständigen Schmerzbeseitigung benötigt wird. Dieser Bereich von der Schmerzdosis bis zur 150-prozentigen Schmerzdosis wird in der Palliativmedizin regelhaft zur Behandlung der Luftnot genutzt.

Aufgrund dieser Dosis-Wirkungs bzw. -Nebenwirkungs-Beziehung profitieren insbesondere Patienten mit starken Dauerschmerzen von Opioiden. Die meisten chronischen Schmerzzustände, gerade bei älteren Patienten, sind aber durch degenerative Veränderungen an Wirbelsäule und Gelenken verursacht. Liegt so ein Patient ruhig im Bett, hat er kaum Schmerzen. Bewegt er sich im Bett oder steht auf, nehmen die Schmerzen sofort sehr stark zu. Stellt man so einen Patienten z.B. auf eine mittlere Dosis eines Stufe-2-Opioids ein, leidet er in Ruhe mangels Schmerzreizen unter den Nebenwirkungen, bei Belastung ist die analgetische Wirkung aber schnell zu schwach. Dosiert man höher, werden die Nebenwirkungen in den schmerzfreien Ruhephasen noch stärker und sind oft nicht tolerierbar.

? Sind für diese Patienten Wirkstoffe der WHO-Stufe 1 vorzuziehen?

Von der Schmerzdynamik her schon. Wenn Sie ein NSAR zusammen mit einem PPI geben, leidet der Patient in schmerzfreien Ruhephasen nicht stärker unter Nebenwirkungen als bei schmerzhafter Belastung, ist aber bei Belastung ausreichend vor Schmerzen geschützt. Die Risiken der NSAR verbieten aber die Langzeitanwendung. NSAR plus PPI sind für die Kurzzeitanwendung geeignet, aber keine Lösung für die Langzeitanalgesie, die vor allem im Alter oft nötig ist.

? Wie kann man dieser Zwickmühle entkommen?

Ich verordne hier Metamizol. Dieses Analgetikum ist aus meiner Sicht völlig zu Unrecht in Misskredit geraten. Mir fällt auf, dass in den Medien immer wieder eindringlich vor dem Risiko einer reversiblen Agranulozytose durch Metamizol gewarnt wird, die Gefahren durch NSAR aber eher zurückhaltend dargestellt werden.

In einer aktuellen Arbeit* wurde das Risiko, an einer Agranulozytose durch Metamizol zu sterben, auf 0,5 bis 1,5 Fälle pro eine Million Anwendungstage berechnet. Das Risiko einer tödlichen gastrointestinalen Blutung oder einer tödlichen kardiovaskulären Komplika-tion unter NSAR beträgt jeweils 1 bis 10 pro eine Million Anwendungstage. Beide Risiken zusammen sind damit deutlich höher als die Gefahr einer tödlichen Agranulozytose unter Metamizol. In der Arbeit wurde ferner gezeigt, dass die meisten Fälle von Agranulozytose in den ersten 30 bis 60 Tagen Behandlung mit Metamizol auftraten.

Mittlerweile steht in der Fachinformation, dass “alle Patienten darauf hingewiesen werden sollten, dass sie sofort den Arzt aufsuchen, wenn während der Behandlung Krankheitszeichen und Symptome auftreten, die auf eine Blutdyskrasie hindeuten (z.B. allgemeines Unwohlsein, Infektion, anhaltendes Fieber, Blutergüsse, Blutungen, Blässe)”. Ferner sind regelmäßige Kontrollen des Differenzialblutbildes vorgeschrieben. Beides hat leider dazu geführt, dass viele Kollegen vor dem Wirkstoff zurückschrecken und gleich Mittel der Stufe 2 wie Tilidin und Tramadol verordnen.

? Worin bestehen die Vorzüge von Metamizol?

Metamizol ist nach meiner Erfahrung eines der besten Analgetika. Für die Substanz gibt es keine strikte obere Dosisgrenze und sie verursacht keine Langzeitprobleme. Die Wirkung ist sehr stark und teilweise den Mitteln der WHO-Stufe 2 überlegen, insbesondere bei nozizeptivem und viszeralem Schmerz. Ich hoffe daher sehr, dass die Verteufelung von Metamizol aufhört, damit wir nicht am Ende eines der wertvollsten Schmerzmittel verlieren.

? Was ist zu berücksichtigen, wenn man ein Analgetikum der Stufe 2 verordnet?

In der Praxis werden die Unterschiede zwischen Tilidin und Tramadol manchmal nicht beachtet. Tilidin ist ein “reiner” Wirkstoff, der nur an Opioidrezeptoren ansetzt. Tramadol ist dagegen ein “dirty drug”, denn es hat auch Eigenschaften eines Antidepressivums und hemmt die Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin in den synaptischen Spalt. Es verursacht daher in der Anfangsphase auf zwei verschiedenen Wegen Übelkeit, d.h. als Opioid und als Antidepressivum. Domäne für Tramadol sind aufgrund seines Wirkprinzips neuropathische Schmerzen. Die Patienten müssen aber angehalten werden, es regelmäßig zu nehmen, weil sonst die Übelkeit, die bei regelmäßiger Gabe verschwindet, immer wieder von Neuem einsetzt. Für somatische oder viszerale nozizeptive Schmerzen ist die antidepressive Wirkkomponente aber nicht von Vorteil, sodass in diesen Fällen Tilidin vorzuziehen ist.

? Muss man auch bei Stufe 2 sofort vorbeugend etwas gegen die Obstipation verordnen?

Beim Tilidin kann man in den meisten Fällen abwarten, ob und wie stark die Obstipation auftritt. Bei speziellen Risiken, etwa nach einer Bauchoperation oder bei bettlägerigen Patienten, würde ich aber gleich ein Laxans verordnen.

? Welche Laxanzien setzen Sie in der Praxis ein?

Nach Expertenmeinung ist Macrogol die ideale Substanz. Es muss aber mit reichlich Flüssigkeit eingenommen werden, was vor allem bei älteren Patienten und erst recht in der Palliativsituation oft nur schwer oder gar nicht einzuhalten ist. Zudem tolerieren viele Patienten den unangenehmen Geschmack nicht. Eine Alternative ist Na-triumpicosulfat. Die Wirkung ist aber vor allem bei stärkeren Opioiden oft zu schwach. In diesen Fällen wechsle ich schnell auf den nur peripher – und damit am Darm – wirksamen My-Rezeptor-Antagonisten Naloxegol.

? Was macht man gegen die initiale Übelkeit, insbesondere bei Tramadol?

Man kann den Patienten für ein oder zwei Wochen 15 Tropfen Haloperidol am Abend geben. Da Haloperidol aber nur noch als Antipsychotikum zugelassen ist, erfolgt dieser Einsatz off label. Infrage kommt auch Metoclopramid, dessen Anwendung aber auch stark eingeschränkt wurde.

? In der Palliativsituation wird die Stufe 2 immer häufiger übersprungen. Ist das auch für ambulante Patienten praktikabel?

In der Tat beginnen wir in der Palliativmedizin oft mit Stufe 3, um den Patienten den meist schnell nötigen Wechsel von Stufe 2 zu ersparen. Stufe-3-Präparate sind heute in so niedrigen Dosierungen verfügbar, dass man ihre Wirkung sehr gut steuern kann. Man könnte sie auch außerhalb der Palliativmedizin in der ambulanten Versorgung häufiger einsetzen. Größtes Hindernis in der Praxis ist die BtM-Pflicht dieser Substanzen.

 

Quelle:

* Haschke M, Liechti ME. Metamizol: Nutzen und Risiken im Vergleich zu Paracetamol und NSAR. Swiss Medical Forum– Schweizerisches Medizin Forum 2017;17(48):1067–1073

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