Hausärzte sollten bei Diabetes-Patienten nicht verfrüht auf eine Fahruntauglichkeit schließen, sondern auf Begleiterkrankungen schauen. “Die meisten Menschen mit Diabetes nehmen sicher am Verkehr teil”, sagte Dr. Reinhard Holl vom Institut für Epidemiologie der Uniklinik Ulm, als der Co-Autor die neue Leitlinie “Diabetes und Straßenverkehr” der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) in Berlin vorstellte.
Das 188-seitige Werk will dabei ein Vorurteil ausräumen, das viele Ärzte nach wie vor hätten: Dass Berufskraftfahrer, sei es im Taxi, Bus oder im LKW, mit Diabetes ein besonderes Risiko darstellten. Bei der Bewertung der Fahreignung sei davon auszugehen, dass “gut eingestellte und geschulte” Diabetiker Fahrzeuge der Gruppe 1 (Autos, LKW bis 3,5 Tonnen), der Gruppe 2 (Busse, LKW über 3,5 Tonnen) und zur Personenbeförderung “sicher führen” können.
Bislang können sich Ärzte, die die Fahrtauglichkeit eines Diabetikers beurteilen wollen oder sollen, einzig auf die Begutachtungsleitlinien für Kraftfahrzeuge stützen, die die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) erstellt.
Allerdings fehle es dort oft an detaillierten Angaben, sagte die BASt-Regierungsdirektorin Dr. Martina Albrecht – zum Beispiel, wenn es darum gehe, was eine “stabile Stoffwechsellage” bedeutet. “Das müssen Gutachter bisher selbst beurteilen”, sagte Albrecht. Dieser Ermessensspielraum führe bei Patienten wie Ärzten oft zu Unsicherheiten, die die Leitlinie nun ausräume.
Ärzte sollten auf Begleit- und Folgeerkrankungen achten
Besonders relevant ist das, wenn Ärzte als Gutachter eingesetzt werden, um über den behördlichen Entzug der Fahrerlaubnis zu befinden. Die Leitlinie stellt klar, dass sich durch Diabetes die Unfallwahrscheinlichkeit zunächst einmal nur um zehn Prozent erhöht. Zum Vergleich: Bei ADHS sind es laut Reinhard Holl 400 Prozent, bei Schlafapnoe 200 Prozent.
Allerdings sollte daraus keine generelle Unbedenklichkeit abgeleitet werden. So litten übergewichtige Menschen mit Typ-2-Diabetes oft an eben jener Schlafapnoe. Ebenso sprächen wiederholte schwere Unterzuckerungen im Wachzustand für ein Fahrverbot. Gleichzeitig stellt die Leitlinie klar, dass ein hoher Langzeitblutzuckerwert kein Grund für einen Entzug der Fahrerlaubnis sein sollte.
Ein Kapitel der Leitlinie thematisiert Folgeerkrankungen des Diabetes: So rät sie etwa zu einem Fahrverbot, wenn Patienten eine fortgeschrittene Retinopathie oder Makulopathie haben. Dies kann auch in Betracht kommen, falls eine periphere Polyneuropathie (PNP) oder ein diabetisches Fußsyndrom den Betroffenen so einschränkt, dass er die Pedale nicht mehr sicher benutzen kann. Technische Hilfen wie die Umrüstung des Fahrzeugs könnten Ärzte im Einzelfall erwägen, damit der Patient mobil bleiben kann.
Die Leitlinie weist besonders auf Präventionsmöglichkeiten hin. So gebe es inzwischen viele Medikamente, die kaum oder keine Unterzuckerung hervorrufen. Seit 2017 erstatte die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) außerdem CGM-Systeme, mit denen eine kontinuierliche Glukosemessung möglich ist, bei der Verordnung gelten aber einige Einschränkungen (Übersicht in Der Hausarzt 19/2017).
Weiterhin gebe es spezielle Schulungen, auch diese zahle teilweise die GKV. Vor allem gehe es aber darum, Patienten aufzuklären, sagte der Jurist und Leitlinien-Co-Autor Oliver Ebert. “Das Thema Führerschein sollte eigentlich zur Anamnese gehören”, sagte er.
“Ärztliches Fahrverbot” schützt im Zweifel vor Regress
Ebert betonte aber auch, dass ein “ärztliches Fahrverbot” für den Patienten nicht bindend sei – allerdings komme der Arzt damit seiner Pflicht nach und schütze sich vor Schadenersatzforderungen, etwa durch Versicherer. Diese kämen in jüngster Zeit immer wieder auf Ärzte zu, wenn bei Patienten im Zuge einer Unfallermittlung Diabetes festgestellt würde.
Solche Regress-Risiken würden durch klare Vorgaben in der Leitlinie nun reduziert. “Ärzte haben eine Handhabe, um zu zeigen, dass sie sich am aktuellen Stand der Wissenschaft orientiert haben.”
Ärzte sollten ein ausgesprochenes Fahrverbot nur als “ultima ratio” an die Behörden oder die Polizei melden, wenn zuvor alle zumutbaren Einwirkungsmaßnahmen auf den Patienten erfolglos geblieben sind. Sie verstoßen damit nämlich gegen ihre ärztliche Schweigepflicht und riskieren nicht nur eine berufsrechtliche Warnung, sondern sogar Freiheits- oder Geldstrafen nach dem Strafgesetzbuch.
Eine Meldung könne in Betracht gezogen werden, wenn “eine gegenwärtige, konkrete Gefahr für Leib und Leben des Patienten oder Dritter besteht”, heißt es in der Leitlinie. Vor einer Offenlegung müssten Ärzte aber alle möglichen Maßnahmen, um auf den Patienten einzuwirken, ausgeschöpft haben. Dies müssten sie dokumentieren und nachweisen, dass sie dem Betroffenen die Meldung angedroht haben.