Rund jede vierte Person in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Im Jahr 2018 stammten die meisten aus der Türkei (13 Prozent), gefolgt von Polen (10,8 Prozent) und Russland (6,6 Prozent) [1]. Trotz einer höheren Prävalenz für physische und psychische Erkrankungen nutzen Migranten Früherkennungs- und Präventionsangebote seltener als Deutsche [2]. Besonders häufig sind sie von einem Diabetes Typ 2 betroffen. Für die medizinische Versorgung ist die kulturelle Vielfalt oft herausfordernd – hier ist es hilfreich, gewisse Besonderheiten zu kennen.
Anderes Krankheitsverständnis
In Abhängigkeit von der kulturellen Herkunft äußern sich Menschen zu ihren Erkrankungen unterschiedlich. Migranten berichten oft von einem Ganzkörperschmerz (“Mir tut alles weh”). Das Leid wird intensiv, laut und deutlich geäußert – auch von Müttern in Bezug auf ihre Kinder. Die Erkrankten stehen im Mittelpunkt der Familie und verhalten sich eher passiv; sie erwarten und erhalten Aufmerksamkeit von ihren Angehörigen. Viele Patienten betrachten Schmerz als Sühne oder göttliche Prüfung, sodass sie auch schmerzhafte Erkrankungen hinnehmen. Auch den Diabetes sehen sie wegen der göttlichen Herkunft von Krankheiten nicht als Umstand, den sie beeinflussen oder vermeiden können. Diese Einstellung haben Männer häufiger, deshalb gehen sie meist seltener zum Arzt: Sie suchen ihn nur in ernsten Fällen auf und nicht, um Krankheiten vorzubeugen.
Tipps für die Praxis Nicht selten kommt bei Migranten die ganze Familie mit in die Sprechstunde. Dies können Sie nutzen, um die Familienmitglieder aktiv in die Therapie mit einzubinden, etwa beim Erstellen von Blutzuckertagesprofilen oder der Einnahme von Medikamenten. Weisen Sie den Patienten darauf hin, dass er Therapieanweisungen unter anderem auch befolgen sollte, um so lange wie möglich Zeit mit der Familie verbringen, sie schützen und unterstützen zu können. Der Islam verlangt von den Gläubigen, ihre Gesundheit zu schützen. Dieses religiöse Gebot können Sie bei muslimischen Migranten klar und deutlich kommunizieren.
Sprachbarriere und Analphabetismus
Viele Migranten sprechen ihre Probleme wegen mangelnder Deutschkenntnisse nicht an. Insbesondere ältere Frauen ohne Schulbildung aus orientalischen Gebieten sind von dieser Problematik und sogar vom Analphabetismus betroffen, weshalb sie zusammen mit ihrem Ehemann oder Kindern als Dolmetscher zum Arzt kommen. Sie versuchen Situationen zu vermeiden, in denen Schriftsprachenkompetenz gefordert werden könnte und delegieren schriftliche Aufgaben an Personen ihres Vertrauens. Aussagen wie “Ich habe mein Blutzuckertagebuch zuhause vergessen” können darauf hinweisen, dass die Person nicht über ausreichende Lese- und Schreibkompetenzen verfügt.
Tipps für die Praxis Komplexe medizinische Themen können Dolmetscher oft nicht richtig übersetzen – wichtige Details können so verloren gehen. Aus Scham oder zum Schutz des Betroffenen können Übersetzer die Weitergabe von Informationen auch wissend unterlassen. Deshalb sollten Sie sicherstellen, dass die vollständige und inhaltlich korrekte Information beim Patient ankommt. Eventuell können Sie über die Stadt auch ehrenamtliche Dolmetscher heranziehen.
Ist kein Dolmetscher verfügbar, sollten Sie eine einfache Sprache ohne Fremdwörter wählen. Mithilfe offener Fragen können Sie erkennen, ob der Patient das Besprochene tatsächlich verstanden hat. Grundsätzlich sollte die Therapie so einfach und verständlich wie möglich sein. Blutzuckermessgeräte und -tagebücher sowie Diabetes-Infomaterialien gibt es inzwischen in vielen verschiedenen Sprachen.
Vermuten Sie Analphabetismus, sollten Sie die Patienten direkt danach fragen; häufig beantworten sie die Frage dann ehrlich. In diesem Fall wäre es vorteilhaft, das Blutzuckermessgerät oder das kontinuierliche Glukosemesssystem in der Praxis auszulesen.
Fasten im Ramadan
Für den therapeutischen Umgang mit Migranten ist es hilfreich, nicht nur ihre Sitten, Kulturen und Traditionen zu kennen, sondern auch die ihnen zu Grunde liegenden religiösen Regeln. Bei einer Erkrankung kann die Religion deren Bewältigung beeinflussen. Zu den Hauptpflichten eines Muslims zählt etwa das Fasten im Monat Ramadan. Von Beginn der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang verzichten Muslime auf das Essen und Trinken. Nur wer das Fasten ohne gesundheitliche Einschränkungen durchführen kann, ist zu diesem Gebot verpflichtet. Chronisch Kranke sollen deshalb nicht fasten. Trotzdem wollen viele muslimischen Diabetiker – gerade die Älteren – am Ramadan teilnehmen: Etwa 80 Prozent der Typ-2-Diabetiker und 43 Prozent der Typ-1-Diabetiker fasten im Ramadan [3]. Die Gründe dafür sind soziale Aspekte, religiöse Bedürfnisse und das Ziel, Heilung zu erfahren.
Tipps für die Praxis Viele muslimische Migranten, die im Ramadan fasten wollen, verschweigen ihrem Arzt ihr Vorhaben. Sie verzichten in dieser Zeit auf Kontrolltermine mit Blutabnahme. Deshalb sollten Sie sich schon vor Beginn der Fastenzeit erkundigen, ob der Patient vorhat zu fasten und gegebenenfalls die Therapie anpassen. Denn wer kein Insulin spritzt und gut eingestellt ist, kann mit der richtigen Vorbereitung durchaus am Ramadan teilnehmen. Besonders wichtig sind dann die Blutzuckerkontrollen tagsüber, um schnellstmöglich gegensteuern zu können, wenn die Werte schlechter werden. Sehr wichtig ist auch ein Termin nach Ende des Fastenmonats, um die Therapie wieder umzustellen und so zum Beispiel die Entstehung einer Ketoazidose zu verhindern. Patienten mit einem Typ-1-Diabetes, einem Gestationsdiabetes oder einem Typ-2-Diabetes mit begleitender Niereninsuffizienz sollten nicht fasten, da sie ihre Gesundheit gefährden könnten [4].
Fazit
Die Betreuung von Migranten kann viel Zeit und Geduld kosten. Vereinbaren Sie Ziele, die hinsichtlich Kultur, Religion und Lebensgewohnheiten realisierbar sind. Wählen Sie dabei möglichst einfache und sichere Therapiestrategien. Nutzen Sie kleinere Erfolgserfahrungen, um die Patienten dazu zu motivieren, sich weiter um ihren Diabetes zu kümmern.
Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert.
Literatur:
- Statistisches Bundesamt. Migration und Integration. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/_inhalt.html , zuletzt abgerufen am 25.05.2020
- Gesundheit in Deutschland. Gesundheitsberichterstattung des Bundes gemeinsam getragen von RKI und Destatis, November 2015.
- International Diabetes Federation: Diabetes und Ramadan: Practical Guidelines. April 2016. https://www.worlddiabetesfoundation.org/sites/default/files/IDF%20%26%20DAR%20Guidelines%20April-16-low_0.pdf , zuletzt abgerufen am 25.05.2020
- Ibrahim M, Davies MJ, Ahmad E, et al. Recommendations for management of diabetes during Ramadan: update 2020, applying the principles of the ADA/ EASD consensus. BMJ Open Diab Res Care 2020;8:e001248. doi:10.1136/ bmjdrc-2020-001248