© Juulijs - stock.adobe.com Illustration zu William Harvey’s „neuer“ Blutbewegungstheorie.
“Umschnüren wir den Arm mit einer Bandage, so wird klar, dass es einen Übergang des Blutes von den Arterien in die Venen gibt; hieraus können wir schließen, dass der Schlag des Herzens eine fortgesetzte Kreisbewegung des Blutes bewirkt.”
Für uns klingt das banal: Natürlich wird der abgebundene Teil des Arms weiß, weil es an arteriellem Blut mangelt, und gleichzeitig schwellen die Venen an. Und natürlich verhindern Klappen in den Venen den Rückfluss des Blutes. Na klar. Doch im Jahr 1616 war es reine Blasphemie, was William Harvey (1578 bis 1657) bei einer öffentlichen Vorlesung in London vortrug und an Versuchspersonen demonstrierte. Die “neue Blutbewegungstheorie”, die der englische Physiologe so mutig vertrat und auch beweisen konnte, widersprach krass der herrschenden Lehrmeinung.
Galen: Blut wird immer neu gebildet
Bis zum 17. Jahrhundert waren Ärzte von dem überzeugt, was Galen im 2. Jahrhundert gelehrt hatte: nämlich, dass es zwei separate Blutkreisläufe gebe. Da sei einmal das so genannte “natürliche” System des venösen Bluts. Dieses Blut werde immer neu in der Leber gebildet und täglich ausgeschieden. Das arterielle Blut dagegen habe seinen eigenen Kreislauf, das “vitale” System. Dieses Blut komme aus dem Herzen und verteile Wärme und Leben im Körper. Laut Galen saugten die Arterien Luft ein und schieden Dämpfe aus. Die Lungen hätten die Aufgabe, das vom Herzen erwärmte Blut zu kühlen.
Ein recht komplexes System, das Jahrhunderte lang Lehrmeinung blieb. Allerdings nicht ganz unwidersprochen. Der arabische Arzt Ibn an-Nafis etwa postulierte 1242 seine Theorie von einem Lungenkreislauf: Das Blut werde in den Lungen absorbiert und fließe dann zurück in die rechte Seite des Herzens, bevor es durch den Körper fließe.
Revolutionäre Theorie
In Frankreich und Italien beschrieben mehrere Anatomen dann im 16. Jahrhundert die Venenklappen. Niemand konnte sich jedoch deren Funktion erklären, denn diese Venenklappen passten überhaupt nicht mit Galens Vorstellungen zusammen, und die galten nun mal als richtig und waren unumstößlich.
Harvey studierte in Padua, wo sich auch sein Lehrer mit den Venenklappen auseinandersetzte. Das dürfte ihn zu seinen eigenen späteren Untersuchungen inspiriert haben. Im April 1602 promovierte Harvey in Padua zum Doktor der Medizin. Kurz darauf kehrte er in seine Heimat zurück und ließ sich in London als Praktischer Arzt nieder. Schon 1607 wurde er ins Royal College of Physicians aufgenommen. Ab 1615 unterrichtete er am Royal College Anatomie und Physiologie.
Harvey beschäftigte sich intensiv mit Aufbau und Funktion des Herzens. Dazu unternahm er viele öffentliche Sektionen, einige auch an lebenden Tieren. Seine physiologisch-morphologischen Beobachtungen führten zu seiner revolutionären Theorie: Das Blut zirkuliert in einem Kreislauf.
Harvey erkannte, dass die Kontraktion der linken Herzkammer Blut in die Arterien des Körpers und die der rechten Herzkammer Blut in die Lungenarterie pumpte sowie dass beide synchron arbeiteten. Er fand heraus, dass das Herz in 30 Minuten 1.000 Mal schlägt. Er berechnete Blutmengen und maß die Strömungsgeschwindigkeit. Danach müsste der Körper pro Tag 245 kg Blut benötigen. Solch große Blutmengen könnte der Körper aber sicher nicht in kurzer Zeit ständig neu produzieren, wie es nach Galens Lehre der Fall sein sollte. Die einzige plausible Erklärung war, dass dasselbe Blut immer wieder zirkulierte.
Harvey als “Circulator” verspottet
Erst 1628 wagte Harvey, seine Erkenntnisse zu veröffentlichen: “Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus”, meist kurz “De Motu Cordis” (“Über die Bewegungen des Herzens”) genannt. Harveys Werk stieß bestenfalls auf höfliches Interesse. Vielfach war man aber einfach nur empört über die Anmaßung, sich Galens Lehre zu widersetzen. Harvey und seine Theorie waren Ziel von Spott und offenen Anfeindungen. Man beschimpfte ihn als “Circulator”. Aber seine Kühnheit hatte auch direkten Einfluss auf Harveys Leben: “Ich hörte ihn sagen, dass, nachdem sein Buch über den Kreislauf des Blutes herausgekommen war, er beträchtliche Einbußen in seinem Beruf zu verzeichnen hatte und dass der Pöbel glaubte, er sei schwachköpfig, und dass all die Ärzte gegen seine Ansichten und eifersüchtig auf ihn wären”, so John Aubrey (1669 bis 1696) in einer Kurzbiographie. Erst im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts setzten sich Harveys Vorstellungen durch.
Omne vivum ex ovo
William Harvey beschäftigte sich auch mit Embryologie. Auch hier war der englische Physiologe ein Vorkämpfer. Nach jahrelangen physiologischen Beobachtungen kam Harvey zu dem Schluss, dass sich alles Leben aus dem Ei entwickele, auch das der Säugetiere, einschließlich der Menschen: “omne vivum ex ovo”.
Bei Säugetieren werde ein Ei durch ein Spermium befruchtet. Harvey vermutete, das weibliche Ei und der männliche Samen zögen sich durch magnetische Kräfte an. Genaues dazu konnte man erst später herausfinden, als Mikroskope zur Verfügung standen.
1651 veröffentlichte Harvey seine embryologischen Erkenntnisse in London. Die Theorie der Entstehung von Lebewesen aus dem Ei wurde viel positiver aufgenommen als seine Entdeckung des Blutkreislaufs. Sie setzte sich bald durch.
Literatur
Eckart, Wolfgang: “Geschichte der Medizin”, Springer-Lehrbuch.
Paul, Gill: “Die Geschichte der Medizin in 50 Objekten”. Haupt Verlag, Bern, 2016.