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Hausarzt MedizinSpiritualität ist individuell

In existenziellen Krisen wie zum Beispiel einer unheilbaren Erkrankung stellen sich spirituelle Fragen besonders häufig. Gemeint ist damit die individuelle Suche nach dem Sinn des eigenen Lebens, bei der durchaus religiöse Einstellungen eine besondere Rolle spielen können.

FALL

Herr Müller leidet an Bauchspeicheldrüsenkrebs in einem fortgeschrittenen Stadium. Sein Arzt hat ihm mitgeteilt, dass er vermutlich nur noch einige Monate leben wird. Angesichts dieser Situationen gehen ihm viele Fragen durch den Kopf. Hat sein Leben, so wie er es lebte, Sinn gemacht? War es richtig, so viel zu arbeiten und sich so wenig um seine Kinder kümmern zu können? Macht es Sinn, noch um eine Lebensverlängerung zu kämpfen, um dies zumindest etwas nachholen zu können. War es richtig, aus der Kirche auszutreten, wo ihm in seiner Jugend die Kirche, der Konfirmandenunterricht, die Jugendfreizeiten schon etwas gegeben hatten. Solche und ähnliche Fragen gehen ihm intensiv durch den Kopf und er fragt seinen Arzt danach, ob die angebotene Chemotherapie denn noch Sinn machen würde. Neben medizinischen Abwägungen spielt die Frage, was die Chemo­therapie für das, was Herr Müller in seinem Leben Sinn verleiht und was er noch vorhat, eine große Rolle. Nur muss man diesen persönlichen Lebenssinn erst einmal kennenlernen. Dazu sind gezielte Fragen nach dem Lebenssinn hilfreich, wie sie zum Beispiel der ­Interviewleitfaden SMILE bietet.

Schon die Definition von Palliativversorgung der WHO betont die wichtige Rolle von Spiritualität: „… Behandlung von Schmerzen und anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art.“

Was ist Spiritualität?

Was der Begriff Spiritualität meint, ist schwer zu definieren. Weder die Verwendung im Alltag im Zusammenhang mit Esoterik noch die ausschließliche Verwendung in der Nähe zu Religiosität entspricht seiner ganz umfassenden Bedeutung. Eine schöne Definition liefert die Arbeitsgruppe „Spirituelle Begleitung“ auf der Website der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin: „Unter Spiritualität kann die innere Einstellung, der innere Geist wie auch das persönliche Suchen nach der Sinngebung eines Menschen verstanden werden, mit dem er Erfahrungen des Lebens und insbesondere auch existenzieller Bedrohung zu begegnen versucht.“

Spiritualität hat daher viel mit der Suche nach Lebenssinn zu tun. Für Menschen mit fortschreitenden, zum Tode führenden Erkrankungen stellt sich die Frage nach dem Lebenssinn besonders intensiv. Der Psychotherapeut Viktor Frankl hat das Konzept des Lebenssinns erstmals in seinem Buch „Ärztliche Seelsorge“ formuliert. Angestoßen durch seine Erfahrungen im Konzentrationslager zeigte Frankl, dass jeder Mensch Sinn in seinem Leben finden kann, indem er seinem Leben selbst Sinn gibt. Frankl begründete eine eigene Psychotherapie-Richtung, die sich schwerpunktmäßig mit dem „Lebenssinn“ befasst und Logotherapie bzw. Existenzanalyse benannt wurde. Das Lebenssinnkonzept versucht spirituelle Ressourcen der Betroffenen aufzudecken.

Fragen nach dem Lebenssinn stellen sich besonders, wenn existenzielle Bedrohungen, z.B. eine schwere Krankheit, bestehen. Es stellen sich dann Fragen, warum diese Erkrankung eintritt, warum gerade jetzt, warum sie einen selbst betrifft. Es stellen sich Fragen nach dem Sinn der Krankheit, nach dem aktuellen Sinn des eigenen Lebens, nach der Sinnhaftigkeit von Behandlungen. Oft ist die Situation von existenzieller Verzweiflung beherrscht, und es werden Wertvorstellungen, Wertbilder, Gewissheiten, Gottesbilder in Frage gestellt. Even­tuell werden neue Prioritäten bezüglich des Lebenssinns gesehen.

Lebenssinn erfassen

Eine Münchener Arbeitsgruppe um Martin Fegg hat ein Erfassungsinstrument für den Lebenssinn entwickelt. Das Instrument wird SMILE (Schedule for Meaning in Live Evalua­tion) genannt und kann auf der Website www.meaning­inlife.info kostenlos heruntergeladen werden. In SMILE­ definiert der Befragte, welche drei bis sieben Bereiche dem individuellen Leben Sinn geben, unabhängig davon, wie zufrieden der Befragte damit ist. Im zweiten Schritt legt der Befragte fest, wie zufrieden er mit den jeweiligen Bereichen auf einer Skala von +3 bis –3 ist. Im dritten Schritt legt der Befragte fest, wie ­wichtig jeder einzelne Bereich für den Lebenssinn insgesamt auf einer Skala von 0 (nicht wichtig) bis 7 (äußerst wichtig) ist.

Das Instrument SMILE ist sehr gut als ­Einstieg in ein Gespräch über den Lebenssinn geeignet: Der Vorteil ist, dass dieses ­Instrument bei der einzigartigen Defini-tion von Lebenssinn des jeweiligen individuellen Patienten ansetzt. Denn im ersten Schritt ist der Patient selbst ­derjenige, der definiert, welche Bereiche für ­seinen Lebenssinn wichtig sind. Damit ist das ­Paradigma der Palliativversorgung der ­„radikalen Patientenorientierung“ in reinster Form verwirklicht.

Beispiele

Ergreifende Beispiele, wieviel Lebenssinn schwerst Betroffene in ihrer Situation sehen können, liefern literarische Zeugnisse, die nicht nur Bestseller, sondern auch Vorlagen für ergreifende Verfilmungen wurden. Als Beispiele seien „Ziemlich beste Freunde“ von Philippe Pozzo di Borgo (2012) und „Dienstag mit Morrie“ von Mitch Albom (2002) genannt. Damit wird deutlich, welch sinnstiftende, positiven Kräfte die Beschäftigung mit Menschen in palliativer Versorgung auch für Angehörige und professionell Tätige haben kann. Der Sportkolumnist Mitch Albom findet beispielsweise erst angesichts der Aus­einandersetzung mit seinem schwer von einer amyotrophen Lateralsklerose betroffenen ehemaligen Lieblingsprofessor, der trotz Erkrankung sein Leben mit Sinn erfüllt und genießt, selbst zu einem tieferen Lebensgefühl.

Spiritualität ansprechen

Während bei schwerer, fortgeschrittener Erkrankung eine Heilung nicht mehr möglich ist, kann persönliches Wohlergehen im spirituellen Sinn eventuell durch eine Neudefinition des Lebenssinns erreicht werden. Ist Spiritualität wirklich etwas, das mit Medizin zu tun hat, oder ist es eine alleinige Aufgabe von Seelsorgern? In einer umfassenden palliativmedizinischen Versorgung spielen spirituelle Aspekte eine große Rolle. Diese Fragen wollen Betroffene, wie Umfragen zeigen, nicht nur mit dem Seelsorger klären. In einer Welt, in der die Religionen an Einfluss verloren haben, scheint jeder auf seine Weise spirituell bzw. religiös zu sein.

Unsere Aufgabe ist es, diese ­individuelle ­Spiritualität bzw. Religiosität herauszufinden. Patienten berichten, dass es ihnen leichter fällt, über Spiritualität zu sprechen, es aber als sehr befreiend erleben, wenn Gespräche darüber angestoßen wurden. Es scheint ähnlich zu sein wie mit Gesprächen über Sexua­lität.

Spirituelle Fragen stellen sich häufig verklausuliert, sozusagen zwischen den Zeilen in Arzt-Patienten-Gesprächen. Ein Eingehen auf sie erwartet häufig eine spezielle ärztliche Rollendefinition. Im klassisch medizinischen Setting ist der Arzt eher in einer aktiven Rolle, ist der „Macher“, der diagnostiziert, operiert, reanimiert. Auch in der palliativen Versorgung fallen einige eher aktive Rollenanteile auf den Arzt zu, wie zum Beispiel die rasche Symptombehandlung eines Schmerznotfalls zeigt. In der palliativen und insbesondere spirituellen Begleitung ist dagegen eher eine passive, zuhörend wahrnehmende und verstehende Rolle gefragt.

Individuelle Bedeutung von Religion

In einer modernen multikulturellen Welt kommt es immer häufiger vor, dass sich Menschen keiner bestimmten Religion verbunden fühlen, sondern nach Art eines Religionskomponisten verschiedene Religionen miteinander verbinden. Sie sind zum Beispiel christlich sozialisiert ­worden, wenden sich dann möglicherweise dem Buddhismus zu, lernen später eventuell einen islamisch sozialisierten Partner kennen. In existenzieller Not dürften Haltungen und Rituale aus den ­verschiedenen religiösen Kontexten für sie eine ganz persönliche und unterschiedliche Bedeutung haben. Es gilt daher die individuelle Bedeutung der jeweiligen Religion(en) herauszufinden. Es ist nicht zielführend, generelle Schablonen und Meinungen über bestimmte Religionen auf Betroffene anzuwenden. So ist eine Frau, die ein Kopftuch trägt, nicht in jedem Fall eine streng gläubige Muslime, sondern es könnte durchaus sein, dass das Kopftuch für sie auch ein kulturelles Symbol für ihre Heimat ist.

SMILE: Schedule for Meaning in Live Evaluation

  • Schritt 1: Bitte nennen Sie 3 bis 7 Bereiche, die Ihrem Leben Sinn geben, unabhängig davon, wie zufrieden oder unzufrieden Sie momentan mit diesen Bereichen sind. Die Reihenfolge der Nennung spielt keine Rolle.

  • Schritt 2: Bitte kreuzen Sie auf einer Skala von –3 (sehr unzufrieden) bis +3 (sehr ­zufrieden) an, wie zufrieden bzw. unzufrieden Sie in den einzelnen Bereichen sind, d.h. wie sehr sich der jeweilige Bereich positiv oder negativ auf Ihren Lebenssinn auswirkt.

  • Schritt 3: Bitte kreuzen Sie auf einer Skala von 0 (nicht wichtig) bis 7 (äußerst wichtig) an, wie wichtig jeder einzelne Bereich für Ihren Lebenssinn insgesamt ist. Versuchen Sie, so deutlich wie möglich zwischen den Bereichen zu unterscheiden, indem Sie alle Ziffern erwägen.

Der Fragebogen ist auf der Website www.meaninginlife.info zu finden (kostenloser Download möglich).

Fazit

  • Spirituelle Fragen stellen sich vor allem bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung. Sie tauchen im Alltag zwischen den Zeilen auf.

  • Betroffene wünschen eine spirituelle Begleitung durch Ärzte. Dies erfordert eine andere „passivere“ ärztliche Haltung.

  • Fast 9 von 10 Betroffenen bezeichnen sich als im weitesten Sinn als gläubig.

  • Typische Einstiegsszenarien für spirituelle Gespräche können Fragen nach dem Lebenssinn sein, wie sie im SMILE-Interview strukturiert werden.

  • Lebenssinn ist das, was der Patient als Lebenssinn definiert. Das Instrument SMILE erlaubt dem Betroffenen genau das, nämlich seinen persönlichen Lebenssinn und die dafür relevanten Bereiche, selbst zu definieren.

  • Spiritualität ist hochgradig individuell.

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