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Interview zu Bildschirmnutzung bei Kindern“Ohne Leere kann nichts entstehen”

Kleine Kinder verbringen durchschnittlich zu viel Zeit am Bildschirm. Dr. Ulrike Gaiser erklärt, warum dies zu Entwicklungsstörungen führen kann, und gibt Tipps für die Beratung von Eltern.

Das Lernen über den Bildschirm ist sehr viel weniger haptisch als das Lernen in der wirklichen Welt.

Was passiert, wenn Kinder zu viel Zeit mit Bildschirmmedien verbringen?

Das größte Problem ist aus meiner Sicht, dass diesen Kindern zu wenig Zeit für entwicklungsförderliche Aktivitäten zur Verfügung steht. Vor allem im Vorschulalter brauchen Kinder sehr viel Zeit, um zu lernen. Etwas ausprobieren, Ideen entwickeln, eine Sandburg bauen – das sind alles Erfahrungen, die wir nicht machen, um uns zu unterhalten, sondern weil sie uns lebensfähig machen. Forschende sagen, ein Kind muss am Tag sechs bis sieben Stunden spielen, damit es im Alter von sieben Jahren schulfähig ist.

Können Kinder nicht auch am Bildschirm lernen?

Das Lernen über den Bildschirm ist sehr viel weniger haptisch als das Lernen in der wirklichen Welt. Es entsteht nicht durch Imitation, durch Wettbewerb mit anderen oder durch gemeinschaftliches Zusammenarbeiten, sondern es ist von der Industrie vorproduziert und so angelegt, dass es einen enormen Unterhaltungswert hat.

Das Kind muss sich nicht bemühen, etwas zu verändern, mit Frustration umzugehen oder Langeweile auszuhalten – dies ist aber nötig für die Entwicklung von Geduld, Fantasie, Selbstbeschäftigung und Selbstregulation. Das mag jetzt etwas esoterisch klingen, aber: Wenn es keine Leere gibt, dann entsteht auch nichts.

Welche Folgen zeigen Studien?

Unter anderem beobachten wir eine höhere Inzidenz von Konzentrationsproblemen, Verhaltensauffälligkeiten und autistischem Verhalten. Augenprobleme und Adipositas treten vermehrt auf, die motorischen Fähigkeiten nehmen ab. Das Problem bei diesen Studien ist allerdings, dass ja einige Jahre vergehen, bis die Ergebnisse publiziert werden.

Damit hängen wir der technischen Entwicklung massiv hinterher. Noch vor fünf Jahren waren Handys kleiner und weniger leistungsfähig – der Schaden, den wir heute ermitteln, bezieht sich also auf den Stand der Technik von vor ein paar Jahren.

Sie gehen also davon aus, dass der Schaden eigentlich noch größer ist.

Ja – das ist meine Meinung, aber auch die Meinung aller Spezialisten, die ich kenne.

Was ist mit den positiven Effekten von Bildschirmmedien?

Es ist nachgewiesen, dass Jugendlichen gewisse Kompetenzen erwerben, wenn sie viel am Computer spielen – zum Beispiel sind ihre Reaktionen schneller und sie können manche Aufgaben besser lösen. Und für viele geistig und körperlich behinderte Kinder sind Bildschirmmedien ein Segen – etwa Kinder, die sich mithilfe von Sprachsoftware oder per Augensteuerung mitteilen. Es geht nicht darum, Bildschirmmedien zu vermeiden, sondern die dysregulierte Nutzung.

Wo ist die Grenze – wo beginnt schädlicher Konsum?

Es ist zum Beispiel nicht direkt schädlich, wenn ein Kind mal krank zu Hause liegt und dann mehr Videos guckt als sonst. Schwierig wird es dann, wenn es andere Entwicklungsaufgaben vernachlässigt. Also wenn es lieber am Computer sitzt als mit anderen Kindern spielt. Oder wenn ein Jugendlicher nicht mehr rausgeht und mit anderen gemeinsam Sport treibt. Schädlich ist es auch, wenn der Inhalt überfordert – wenn also ein vierjähriges Kind einen Film mit anguckt, der erst ab dem Jugendalter zugelassen ist.

Oder die Tagesschau – da denken Eltern oft nicht daran. Problematisch ist es außerdem, wenn es im Elternhaus keine Regeln für den Umgang mit Medien gibt. Eine Studie hat ergeben, dass dies in über der Hälfte aller Haushalte in Deutschland der Fall ist.

Was sind die wichtigsten Regeln, die Eltern festlegen sollten?

Die Eltern müssen Beginn und Ende der Bildschirmmediennutzung klar definieren. Ein Kind darf nicht freien Zugang zu einem Tablet haben und es einschalten, wann es möchte. Zweitens gilt es Situationen zu schaffen, in denen keine Medien genutzt werden, zum Beispiel das gemeinsame Mittagessen. Drittens sollen Kinder nicht allein Medien konsumieren. Die Eltern müssen nicht immer danebensitzen, aber sie müssen wissen, was sich das Kind anguckt, damit sie sich mit ihm dazu austauschen und seine Fragen beantworten können.

Auch bei Jugendlichen ist es wichtig, den Medienkonsum zu begleiten und ein Gesprächspartner zu sein. Eltern sollten sich außerdem bewusst sein, dass ihr eigenes Verhalten das größte Vorbild für ihr Kind darstellt.

Wie gelingt es, den Medienkonsum gut zu begleiten? Eltern kennen die Inhalte von zum Beispiel Serien ja oft nicht.

Es gibt Plattformen (zum Beispiel “Flimmo”), die Eltern nutzen können, um sich mit wenig Aufwand zu informieren: Wovon redet mein Kind eigentlich, sind die Inhalte adäquat oder nicht? Handelt es sich zum Beispiel um eine Animationsserie, in der Konflikte mit Gewalt gelöst werden, können sie mit dem Kind darüber sprechen und ihm vermitteln, dass es auch andere Wege gibt, Konflikte auszutragen.

Und wenn bereits eine dysregulierte Mediennutzung vorliegt?

Wir unterscheiden in der Leitlinie zwischen Informations- und Interventionslevel. Bei einigen Familien besteht nur ein Bedarf an basaler Beratung bzw. ein Mangel an richtigen Informationen. Wenn die Umsetzung dieser Informationen scheitert, braucht es Hilfe, die darüber hinaus geht – etwa spezialisierte Beratungszentren, Therapeuten oder im schlimmsten Fall einen stationärer Aufenthalt.

Beobachten Sie bei Ihren Patienten, dass sich solche Fälle häufen?

Ja, ich sehe eine deutliche Zunahme. Auf unserer Station gibt es Vierjährige, die zehn bis zwölf Stunden am Tag aufs Tablet gucken, sodass wir sie stationär entwöhnen müssen. Teilweise tolerieren Eltern erheblich lange Zeiten, weil sie nicht mehr in der Lage sind, den Medienkonsum ihrer Kinder zu beenden. Viele Eltern sind auch der Ansicht, dass das Handy für die Kinder etwas Gutes ist und sie fördert.

Außerdem nutzen erschreckend wenig Eltern die technischen Möglichkeiten zum Kinderschutz. Wir sollten jedoch kein Eltern-Blaming betreiben, denn meist gibt es gute Gründe für die Situation. Zum Beispiel habe ich gerade eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern aufgenommen, von denen zwei ADHS haben und eins eine Verhaltensstörung hat. Ich kann verstehen, dass sie Bildschirmmedien nutzt, um die Kinder zu beschäftigen. Nur wenn wir an den Gründen arbeiten, kann beiden Seiten geholfen werden.

Literatur:

  1. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ). SK2-Leitlinie: Leitlinie zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in der Kindheit und Jugend. 1. Auflage 2022. AWMF-Register Nr. 027-075.
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