2006 hat Dr. Ute Schaaf die Hausarztpraxis im ländlichen Absberg übernommen – und damit zugleich auch die Betreuung eines großen Heims der Eingliederungshilfe mit etwa 200 Bewohnern. Berührungsängste hatte sie damals keine, erzählt Schaaf: “Bereits während meiner Schulzeit habe ich regelmäßig Menschen in einem Wohnheim der Lebenshilfe besucht. Herausfordernd war für mich allerdings, dass mich Studium und Weiterbildung nicht darauf vorbereitet hatten, diese Patientengruppe gut zu versorgen. Ich habe dann begonnen, mich entsprechend fortzubilden.”
Vielfältige Herausforderungen
Dass Ärztinnen und Ärzte in ihrer Ausbildung nicht auf das Thema vorbereitet werden, sei ein großes Problem: “Wir lernen zum Beispiel nicht, wie man Schmerzen bei Patienten mit eingeschränkter sprachlicher Fähigkeit erkennt. Oder dass bei Menschen mit neuronalen Entwicklungsstörungen ähnlich wie bei kleinen Kindern die räumliche Zuordnung der Schmerzwahrnehmung oft nicht sicher gegeben ist.”
Dabei geht die Betreuung von Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung mit einer Reihe von Herausforderungen einher, etwa wenn die Anamnese nicht oder nur eingeschränkt möglich ist. Zudem gilt es, den “individuellen Normalzustand” zu kennen, der in der Regel anders ist als bei Menschen ohne Behinderung: “Wenn eine Patientin immer ihr Bein nachzieht, ist das für sie normal und ich brauche kein Notfall-CT.” Extrem hilfreich sei daher eine kompetente Begleitperson, die den Betroffenen seit vielen Jahren kennt. “Hier sehe ich einen großen Vorteil der Hausarztmedizin: Durch die langfristige Betreuung haben Hausärztinnen und Hausärzte vielfach ein gutes Gespür für diesen individuellen Normalzustand.”
Gute Rahmenbedingungen schaffen
Ganz wichtig für Diagnostik und Behandlung ist es aus Sicht von Schaaf, eine ruhige Umgebung zu schaffen: Ideal sei es, die Menschen in ihrer häuslichen Umgebung zu untersuchen. Kommen die Patienten in die Praxis, versucht sie, lange Wartezeiten zu vermeiden: “Je länger die Wartezeit, desto aufgeregter werden alle Beteiligten.” Darum bestellt sie die Patienten gerne am Anfang oder am Ende der Sprechstunde ein. Außerdem plant sie von vornherein mehr Zeit für sie ein (“mindestens doppelt so viel wie für Menschen ohne Behinderung”) – zu dem höheren zeitlichen Aufwand für Untersuchung und Behandlung kommen schließlich oft noch organisatorische Aufgaben oder Gespräche mit den Mitarbeitenden der Einrichtung.
Tipps für die Kommunikation
“Auch Menschen mit geistiger Beeinträchtigung möchten, dass mit ihnen gesprochen wird und nicht über sie”, betont Schaaf. “Ich spreche die Person also immer direkt an. Bei einer nur leichten oder mittelgradigen sprachlichen Einschränkung frage ich sie, ob sie mir selbst antworten möchte oder ob die Begleitperson erzählen soll, was das Problem ist. Viele entscheiden dann, dass die Begleitperson berichten soll – das geschieht dann aber nicht über den Kopf der Patienten hinweg.” Zum Abschluss fragt sie nach, ob er oder sie alles verstanden hat: “Damit zeige ich den Betroffenen, dass ich sie wahrnehme und wissen möchte, ob für sie alles in Ordnung gewesen ist.” Wichtig sei auch, eine einfache Sprache zu nutzen und langsam und deutlich zu sprechen.
Bei einer schwer eingeschränkten sprachlichen Kommunikationsfähigkeit komme es darauf an, Mimik und Gestik genau zu beobachten. “Um Schmerzen zu erkennen, taste ich den potenziell schmerzhaften Bereich ab, wechsle dabei unsystematisch die Stelle und achte auf den Gesichtsausdruck des Patienten. Wenn er immer an der gleichen Stelle das Gesicht verzerrt und die Muskelanspannung höher wird, dann weiß ich, dass er dort Schmerzen hat. Wenn unsystematisch an allen möglichen Stellen ein “Aua” kommt, kann es hingegen sein, dass er einfach nicht angefasst werden möchte.” Daneben gebe es noch die Möglichkeit, die Kommunikation mit Hilfsmitteln wie Hand-Symbolen oder Bildtafeln zu unterstützen.
Geduld hilft
Sowohl bei der Diagnostik als auch bei der Therapie sei die Compliance oft schwierig: “Zum Beispiel Anweisungen wie “bitte tief einatmen” befolgen oder für ein EKG ruhig liegen bleiben. Oder wenn die Person ihren Verband nicht drauflassen möchte.” Hier helfe oft Geduld. “Bei der Auskultation halten viele Betroffene zunächst die Luft an, wenn sie das kalte Stethoskop spüren. Wenn ich dann aber einfach abwarte, bis er oder sie merkt, dass das nichts Schlimmes ist, atmen die Patienten irgendwann automatisch tief ein.” Um ein Langzeit-EKG durchzuführen, könnten Ganzkörper-Bodys helfen; einen Verband baue sie mit mehreren Schichten übereinander auf. “Und manchmal muss man einfach ganz individuelle Lösungen finden”, so Schaaf.
Weitere häufige Probleme bei der Behandlung dieser Patientengruppe seien herausforderndes Verhalten, die Hilfsmittelversorgung und sozialrechtliche Fragestellungen. Auch das “Shared Decision Making” gestalte sich oft kompliziert: “Bei Menschen mit geistiger oder Mehrfachbehinderung sind neben Arzt und Patient meist auch noch Begleitperson und gesetzlicher Betreuer beteiligt. Mit wem treffe ich in dieser Konstellation die Entscheidung? Aus all diesen Gründen muss das Thema ins Studium integriert werden”, betont Schaaf (s. auch “Der Hausarzt” 14/24).
Klare Regeln
Grundvoraussetzung für eine inklusive Praxis sei neben einer bei allen Teammitgliedern vorhandenen Wertschätzung für Menschen mit Behinderung vor allem eine gute Organisation: “Für die Zusammenarbeit mit den Heimen haben wir klare Regeln aufgestellt. Welche Unterlagen sollen die Mitarbeitenden mitbringen/bereithalten? Wie werden wir informiert, wenn die Gebietsärzte die Medikation verändern? Die Hausbesuche führen wir an bestimmten Nachmittagen durch; sie müssen bis 12 Uhr bestellt werden. Medikamente und Überweisungswünsche müssen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt geordert werden, damit wir die Bestellungen gesammelt bearbeiten können. Darüber hinaus sind wir bei einfachen nicht dringlichen Fragestellungen digital in Kontakt.” Schaaf evaluiert diese Regeln regelmäßig gemeinsam mit der Heimleitung, um Verbesserungen zu ermöglichen.
Zudem hat sie einige hilfreiche Formulare entwickelt. “Dazu zählt ein Begleitzettel für Menschen, die nur leichte intellektuelle Einschränkungen haben und alleine zu uns kommen möchten, zum Beispiel wenn sie regelmäßig eine Spritze erhalten. Wir nutzen außerdem ein Formular, um die Einstellung der gesetzlichen Betreuer zu Impfungen zu dokumentieren, damit wir nicht jedes Mal nachfragen müssen. Für neue Heimbewohner haben wir einen Handzettel erarbeitet mit allen Informationen, die wir benötigen – zum Beispiel den Namen des bisherigen Hausarztes, die Kontaktdaten der gesetzlichen Betreuung, den Impfstatus, medizinische Vorbefunde” (s. Link zur Checkliste).
Berührende Momente
Trotz aller Herausforderungen kann Schaaf über sehr viele schöne Momente berichten: “Während der Covid-19-Pandemie zum Beispiel habe ich möglichst viel telefonisch geklärt und kaum Hausbesuche gemacht. Als ich dann nach längerer Zeit wieder eine Wohngruppe aufgesucht habe, sind alle Bewohner auf mich zugestürzt und wollten mich umarmen – das war sehr berührend. Diese Menschen haben oft wenige Angehörige und wenn man sie seit vielen Jahren kennt und regelmäßig sieht, gehört man für sie emotional zu ihrer Familie.” Und sie fügt hinzu: “Menschen mit geistiger Behinderung sind nicht hinterhältig oder unaufrichtig und geben dadurch viel zurück. Einer der wenigen Professoren bei mir an der Uni, der das Thema behandelt hat, hat einmal gesagt: “Aus einem Menschen mit Down-Syndrom wird nie ein Hitler oder Mussolini werden”. Diesen Satz kann ich zu hundert Prozent unterschreiben.”