Zum 1. Januar 2012 wurde auf Initiative des damaligen Bundesgesundheitsministers Daniel Bahr (FDP) Paragraf 106 Abs. 5e S. 1 ins SGB V eingefügt: Danach müssen Ärzte zuerst beraten werden, wenn sie erstmals die Richtgröße für Arzneimittel um 25 Prozent oder mehr überschreiten (Beratung vor Regress).
Seitdem haben die Kassen ihre Strategie geändert und belasten besonders Hausärzte mit Einzelfallprüfungen. "Rückenwind" haben sie durch eine vom Bahr-Nachfolger Hermann Gröhe (CDU) initiierte Neuregelung erhalten: Sie sieht vor, dass die Praxissoftware Ärzte besser über die Ergebnisse der Nutzenbewertung informiert und sie diese bei ihren Therapieentscheidungen berücksichtigen sollen.
Kommentar
Ein weiterer Auftrag des Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetzes (AMVSG) tangiert die Verordnung von Antibiotika. Wegen der zunehmenden Resistenzen sollen im EBM Regelungen zur Erstattung von diagnostischen Verfahren getroffen werden, um Antibiotika zielgenauer einsetzen zu können. Gedacht ist dabei an Schnellanalyseverfahren, wie sie bereits zum Beispiel mit der Bestimmung von CRP vorhanden sind. Was dabei herausgekommen ist, kann man nur mit Stirnrunzeln begleiten. Im Erweiterten Bewertungsausschuss haben sich KBV und Kassen von 1. Juli 2018 an auf Parameter geeinigt, die dem Gesetzesauftrag, "Schnellanalyseverfahren" für die Praxis zu fördern, noch nicht einmal ansatzweise gerecht werden (kurz berichtet in Der Hausarzt 7).
Bevor Hausärzte ein Antibiotikum verschreiben, sollen sie erst diagnostische Tests einleiten – wofür es künftig neue EBM-Ziffern gibt: Bestimmung des Biomarkers Procalcitonin (Nr. 32459), MALDI-TOF-Massenspektrometrie für Bakterien und Pilze (Nrn. 32759 und 32692). Ggf. sollen noch die Empfindlichkeitsprüfungen nach EUCAST oder CSLI für gramnegative und -positive Bakterien (Nrn. 32772 und 32773, Zuschläge 32774 und 32775) folgen.
Bei generalisierten bakteriellen Infektionen synthetisieren alle Körperzellen vermehrt Procalcitonin. Es hat sich als Entzündungsmarker neben CRP bisher vor allem in der Intensivmedizin beim Monitoring von Risikopatienten mit schweren bakteriellen Infektionen, Sepsis und septischem Schock bewährt. Persistierend hohe und/oder im Verlaufe der Erkrankung ansteigende Procalcitonin-Werte sind dabei als sicherer Hinweis auf eine schlechte Prognose zu werten. Praxisrelevant ist die Methode so gesehen nicht. Es existiert aber bereits ein AQT90 FLEX Analysator, der laut Hersteller Ergebnisse aus Vollblut oder Plasma in weniger als 21 Minuten liefert und damit direkt in der hausärztlichen Praxis eingesetzt werden könnte.
Das Problem: Alle diesbezüglich von KBV und Kassen im Bewertungsausschuss geschaffenen neuen Laborleistungen sind im speziellen Teil des Laborkapitels angesiedelt, also dürfen nur Laborärzte oder Ärzte mit vergleichbarer Qualifikation diese durchführen und abrechnen. Vor einer so gezielteren Antibiotikatherapie muss der Hausarzt die Proben daher ins entsprechende Labor schicken. Das geht, wenn der Patient später am Tag in der Praxis erscheint, erst am Folgetag. Man müsste den Patienten also zunächst nach Hause schicken und ihn – bei positivem Befund – etwa 24 Stunden später wieder einbestellen, um sich ggf. ein Antibiotikarezept abzuholen.
Streng genommen müsste man bei der Gelegenheit erneut Blut abnehmen, um noch die zusätzlichen Erregerdifferenzierungen und Empfindlichkeitsprüfungen zu veranlassen. Folglich müsste der Hausarzt das Antibiotikum unter Vorbehalt verordnen, damit er das Rezept später je nach Ergebnis anpassen kann.
Wer so etwas entscheidet, muss sehr lange nicht mehr oder noch nie in einer Arztpraxis tätig gewesen sein. Der Betreffende muss auch noch nie etwas von einer "Grippewelle" gehört haben und nicht wissen, dass etwa 30 bis 40 Prozent der Hausarztpatienten im Pflegeheim behandelt werden. Die Neuregelung ist für Laborärzte eine zusätzliche Einnahmequelle, für Hausärzte hingegen eine (unentgeltlich zu erbringende) weitere bürokratische und ggf. sogar finanzielle Belastung.
Die betreffenden Laborleistungen sind nämlich von der Anrechnung auf den neuen Laborbonus befreit, wenn der Hausarzt die Kennziffer 32004 EBM angibt. Gleichzeitig erleichtert die Kennziffer den Kassen aber, Einzelregressanträge zu stellen. Wer nach dem 1. Juli 2018 nämlich Antibiotika verordnet, ohne auf dem Behandlungsausweis die Nr. 32004 EBM anzugeben, ist einfach zu identifizieren und damit potenziell regressgefährdet.