Praxis WissenWeg vom Zwang zum Zielwert

Im Fokus der kardiovaskulären Prävention steht heute das individuelle Gesamtrisiko des Patienten. Um dieses zu schätzen, haben Hausärzte die Qual der Wahl zwischen Score-Systemen und Leitlinien-Empfehlungen, die teilweise voneinander abweichen.

Die gute Nachricht zuerst: Die kardiovaskuläre Mortalität geht in Deutschland zurück – es zeigt sich eine deutliche Verbesserung kardiovaskulärer Risikofaktoren wie Blutdruck und Cholesterin, auch wenn das Potenzial für weitere Verbesserungen noch hoch ist, berichtete Prof. Jacqueline Müller-­Nordhorn, von der Charité Universitätsmedizin Berlin. Hilfe zur kardiovaskulären Risikoabschätzung böten dem Hausarzt ­verschiedene Score-Systeme und Algorithmen wie das arriba-Modul, der Euro-Score.

Mit arriba können Hausärzte für ihre Patienten eine ­individuelle Risikoprognose für Herzinfarkt und Schlaganfall stellen. Die Wahrscheinlichkeit wird dabei optisch anhand von Smileys demonstriert und Effekte von Verhaltensänderungen oder medikamentöser Therapie anschaulich dargestellt.

Leitlinien: Vielfalt und Verwirrung?

Während einige Fachgesellschaften eine Strategie der festen Dosis verfolgten (DEGAM, ACC/AHA, US-VA, US-PSTF), empfehlen die europäischen ESC-Leitlinien, NICE und Joint British Societies eine Zielwert-Strategie, manche Leitlinien fokussierten auf Lipidstoffwechselstörungen, andere auf primäre oder sekundäre kardiovaskuläre ­Prävention, erklärte Prof. Norbert Donner-Banzhoff, Abteilung für Allgemeinmedizin, Präventive und Rehabilitative Medizin, Philipps-Universität Marburg. Die niedrigste Schwelle für eine Intervention findet sich mit 7,5 Prozent kardiovaskuläres Risiko in zehn Jahren in den ACC/AHA-Leitlinien – damit werde ein großer Teil der Bevölkerung als interventionswürdig klassifiziert.

Die höchste Schwelle zur kardiovaskulären Primärprävention definiert derzeit die DEGAM-Leitlinie mit 20 Prozent kardiovaskuläres Risiko in zehn Jahren sowie die ESC-Leitlinie mit fünf Prozent kardiovaskulärer Mortalität/zehn Jahre. Die amerikanischen ­Fachgesellschaften (ACC/AHA, US-VA) empfehlen dabei die Statin-Gabe in zwei Stufen: Kommt ein Patient in die Risikozone (7,5 Prozent kv-R/zehn Jahre), erhält er eine Standarddosis, für ­Hochrisikopatienten mit manifester kardiovaskulärer Erkrankung wird eine Hochdosistherapie empfohlen. Donner-Banzhoff befürwortete dieses Risiko-orientierte Vorgehen, das für den Patienten eine zusätzliche relative Risikoreduktion von etwa 15 Prozent bedeute und regte an, diese Empfehlung auch für das arriba-Modul zu erwägen.

Der Blick auf das Gesamtrisiko ­gewinne an Bedeutung, wobei der wichtigste ­Risikofaktor das Bestehen einer kardiovaskulären Erkrankung sei, sagte Donner-Banzhoff. „Wir sollten uns davon befreien, einen Messwert in den Normbereich bringen zu müssen, und eher auf das globale Outcome achten.“ Verschiedene Strategien der Ärzte ­könnten gefährliche Situationen kreieren: Er berichtete von einem Patienten, der ­eine Statin-Standarddosis gut vertrug, der Kardiologe aber die Dosis erhöhte, um den Zielwert zu erreichen. Der Patient litt in der Folge an Muskelschmerzen und setzte die Medikation ab.

Transatlantischer Konsens bestehe ­darüber, die Intensität der Behandlung an die Höhe des Risikos anzugleichen; Zielwerte seien als Kommunikationsmittel sinnvoll, sagte Prof. Ulrich Laufs, Universitätsklinikum des Saarlandes. Er unterstrich die Risiken hoher Cholesterinwerte: „Es gibt keine epidemiologische Untersuchung, in der LDL- und Gesamtcholesterin nicht mit Herzinfarkt-Risiko korreliert.“ Sei es ­möglich, das LDL-Cholesterin lebenslang von Geburt an zu senken, wäre pro 1 mmol/l LDL-Senkung eine ­kardiovaskuläre Risikoreduktion von 54,5 Prozent zu erreichen, beschrieb er Ergebnisse einer Studie von Ference et al. (doi: 10.1016/j.jacc.2015.02.020; doi: 10.1016/j.jacc.2012.09.017). Doch typischerweise erhielten die Patienten erst in der sechsten Lebensdekade ­eine Statin-Therapie, so dass die Studien ­eine Risikoreduktion von etwa 24 Prozent zeigten.

„Entscheidend für das Risiko ist die Lebenszeitexposition gegenüber hohem Cholesterin“, erklärte Laufs. Die Pathogenese kardiovaskulärer Erkrankungen sei ein kontinuierlicher Prozess: „Ich glaube nicht an eine Schwarz-Weiß-Einteilung in Primär- und Sekundär-Prävention – das halte ich für inhaltlich überholt“, verdeutlichte er. Dies zeigten auch Untersuchungen bei Menschen mit familiärer Hypercholesterinämie (FH): Bei homozygoter Form sei die Schwelle für das Auftreten einer Herzerkrankung bereits mit zwölf Jahren, bei heterozygoter Form erst mit etwa 35 Jahren erreicht.

Absolute Risikoreduktion hängt von Höhe des Ausgangs-LDL ab

Die Wirksamkeit von Statinen sei umfangreich belegt, wobei auch ein möglicher Legacy-Effekt diskutiert werde. Teilnehmer der West of Scotland-Studie, die vier Jahre Statine erhalten hatten, profitierten mit steigendem Lebensalter verstärkt von der Gabe, wie eine 16jährige Nachbeobachtung zeigte – ihr Herzinfarkt-Risiko sank zunehmend. „Eine der potentesten Möglichkeiten, eine Herzinsuffizienz zu verhindern, ist die Behandlung von jüngeren Menschen mit Hypercholesterinämie mit einem Statin“, so Laufs.

Bei der Bewertung der Studienergebnisse zu Ezetimib (IMPROVE-IT) und PCSK-9-Hemmern (FOURIER) gelte es zu bedenken, dass die absolute Risikoreduktion mit der Höhe des Ausgangs-LDL korreliere. Durch PCSK-9-Hemmer sei eine 50-prozentige ­Risikoreduktion (zusätzlich zu Statinen) erreichbar – ­abgesehen von Patienten mit homozygoter FH, bei denen die Antikörper-basierte Therapie aufgrund der fehlenden LDL-Rezeptoren nicht wirke. Den Einsatz eines PCSK-9-Hemmers könne man in Erwägung ziehen für Patienten mit sehr hohem kardiovaskulären Risiko und LDL-Cholesterin, das trotz opti-mierter oraler Therapie (Statin plus Ezetimib) nicht zu senken sei – also Patienten, die auch für die Lipidapherese infrage kommen würden, so Laufs.

Junge Risikopatienten erfasst kein Score

Laufs schilderte den Fall eines 11-jährigen syrischen Jungens mit homozygoter FH, der im Ultraschall bereits zirkuläre arterielle Plaques zeigte. Solche jungen Menschen mit stark erhöhtem LDL-Cholesterin würden durch Risikoscores nicht abgebildet. Die FH sei – in der heterozygoten Form – eine der häufigsten hereditären Erkrankungen (1:250), erinnerte Laufs. Hochrisikopatienten bzw. solche mit familiärer Hypercholesterinämie könne man anhand von Warnsignalen erkennen: Bei einem LDL über 190 mg/dl (bei Kindern über 155 mg/dl), positiver Familienanamnese Verwandter ersten Grades oder ­kutanen Zeichen einer Fettstoffwechselstörung (Xanthome, Xanthelasmen) sollte man hellhörig werden.

Quelle: 1. arriba-Symposium, 3.3.17, Berlin

Interessenkonflikte:

  • J. Müller-Nordhorn hat keine deklariert.

  • N. Donner-Banzhoff: Geschäftsführer der Gemeinnützigen Gesellschaft für Patientenzentrierte Kommunikation, die arriba-Software entwickelt und vertreibt; BMBF, AOK Baden-Württemberg und AOK Bundesverband haben arriba und begleitende Forschungsprojekte finanziell gefördert.

  • U. Laufs gibt gegenüber Der Hausarzt an: Honorare für Vorträge, Studien und wissenschaftliche Kooperationen zusammen mit der Universität des Saarlandes in den letzten 5 Jahren von: ABDA, AkdÄ, Amgen, AstraZeneca, Bayer, Berlin-Chemie, Boehringer-Ingelheim, DACH, Daiichi-Sankyo, DFG, EU, i-cor, Lilly, Medtronik, MSD, Pfizer, Roche, Sanofi, Servier, Stifterverband, Synlab, UdS, UKS.

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