Sie sind schon faszinierend, diese Faszien. Einst in Anatomiestudien als vermeintlich unwichtiges Verpackungsmaterial entfernt, wird das faserige, kollagene Bindegewebe inzwischen von so manchem Forscher als Medizin revolutionierendes Wahrnehmungsorgan gefeiert. Denn seit es mit hochauflösendem Ultraschall untersuch- und vermessbar ist, wird immer klarer: Faszien können sehr viel mehr, als Muskeln, Knochen, Organe und Nerven miteinander zu verbinden und unseren Körper zusammenzuhalten.
Sie verspannen und entspannen sich beispielsweise durch Stressbotenstoffe, wies Deutschlands führender Faszienforscher Dr. Robert Schleip, Direktor der Fascia Research Group, Division of Neurophysiology an der Universität Ulm, schon 2006 in seiner Doktorarbeit im Fach Humanbiologie nach (1). Myofasziale Ketten übernehmen die Kraftübertragung von Muskel zu Muskel und bieten die Grundlage für reibungslose Bewegung.
Das Gewebe registriert durch zahlreiche Nervenenden, Dehnungs- und Schmerzrezeptoren Spannungsänderungen, Druck und Schmerzen. Das spielt für die Propriozeption, den Nährstoffaustausch, das Immunsystem und die Psyche eine wichtige Rolle. Kurz: Faszien sind unser sechster Sinn.
Umso wichtiger erscheint es, dem inneren Netzwerk Beachtung zu schenken. (Profi-)Sportler trainieren es längst, um ihre Leistung zu verbessern und Verletzungen vorzubeugen. Der Hype um das „gute alte Bindegewebe“ ist aber genauso interessant für Schmerzpatienten und Ärzte. Durch zu wenig Bewegung, Überlastung, Verschleiß, Fehlhaltungen oder Stress kann es nämlich starr werden und sich verdicken. Statt seidig gegeneinander zu gleiten, wuchern die Kollagenfasern dann in alle Richtungen und verfilzen. Das Gewebe wird rissig und schlägt mit Bewegungseinschränkungen und Schmerzen Alarm. Betroffene beschreiben diese meist emotional als reißend, zermürbend, quälend – typisch für viele Rückenleiden.
Wissenschaftler der Universität Heidelberg konnten zeigen: Besonders reich an potentiellen Schmerzrezeptoren ist die Fascia thoracolumbalis (2) – und so drängt sich der Verdacht auf, dass hinter so einigen der rund 80 Prozent idiopathischen Rückenproblemen die Lendenfaszie stecken könnte. Die gute Nachricht: Durch gezielte Impulse lässt sich das Gewebe wieder um- und aufbauen.
Während die Forschung noch am Anfang steht, gibt es in der Praxis bereits beeindruckende Behandlungserfolge – durch Osteopathen, Physio- und Rolfingtherapeuten. Neben dem Drücken, Ziehen und Kneten wirken Sportarten wie Yoga, Pilates oder Tai-Chi faszienstimulierend. Dank der Zugbewegungen bleiben sie lang, flexibel und die Bindegewebszellen werden dazu angeregt, altes durch neues, elastisches Gewebe zu ersetzen. Langsames, schmelzendes Dehnen wie beim Yin Yoga senkt Blutdruck und Puls.
Die Faszien lassen sich aber auch im Alltag gezielt optimieren. Das Training basiert auf vier Säulen:
1. Übungen für eine bessere Körperwahrnehmung
Hierbei gilt es, achtsam zu erspüren, ab welchem Bewegungsausmaß Spannungen im Gewebe auftreten – noch bevor ein Schmerzgefühl auftritt. Sich gleich morgens im Bett oder zwischendurch am Schreibtisch zu räkeln, eignet sich dazu ausgezeichnet. Durch kleine Winkelveränderungen lässt sich das Spannungsverhalten positiv beeinflussen, wodurch man auch ein besseres Gespür für den eigenen Körper entwickelt.
2. Massage mit Faszienrolle, Tennisball und Co
Die Massage oder das Ausrollen (Rollout) von Schmerzpunkten und faszialen Triggerpoints mit der Faszienrolle/Blackroll sorgt für einen optimierten Flüssigkeitstransport aus dem Bindegewebe und löst Verfilzungen. Zum Ausprobieren bietet sich die Rollmassage der Fußsohle mit einem Tennisball an. Wichtig: Gerollt wird nicht mehr als einen Zentimeter pro Atemzug, um bis in die tiefen Bindegewebsschichten vorzudringen. Ist ein sensibler Punkt gefunden, langsam im Wohlschmerz massieren, bis dieser abklingt. Da sich die Spannung der ganzen Faszien lösen kann, ist man sofort beweglicher. Aber Vorsicht: Nicht übertreiben, sonst droht Muskelkater. Die Stimulation sollte sich anfangs auf zweimal pro Woche beschränken. Zu den Kontraindikationen zählen frische Wunden, Entzündungen, oberflächliche Krampfadern, Osteoporose und Schwangerschaft.
3. Dynamisches Dehnen
Sekundenlang starr in einer Dehnung zu verharren ist nichts für die Faszien. Sie fordern langsames, schmelzendes Rekeln und ein winkelvariiertes, sich stetiges Hineinschmiegen in den Stretch, bis Gelenke und Gewebe nicht mehr schmerzfrei nachgeben. Durch die Mikrobewegungen werden sie mobilisiert, besser mit Sauerstoff versorgt, geschmeidiger und weniger verletzungsanfällig. Wichtig: Ruhig atmen nicht vergessen.
4. Sanfte, federnde Sprünge und schwungvolle Bewegungen (Katapulteffekt)
Um das Prinzip Dehnung und Rückstelleffekt zu nutzen, eignet sich zum Beispiel das „Ninjataining“. Dabei flitzt man etwa die Treppe schnell, aber lautlos hoch und runter. Auch gut: auf den Fußballen wippen. Oder beim Runterbeugen zum Schuhe zubinden sanft mit dem Po wackeln und kreisen. Barfuß Seil springen oder das Werfen eines Balls aktivieren durch die Stoßbelastung Fibroblasten und regen die Kollagenbildung sowie -strukturierung an. Zieht sich das Bindegewebsnetz wie eine Sprungfeder auseinander und kurz darauf wieder zusammen, setzt es zudem katapultähnlich Energie frei und spart Muskelkraft.
Physiotherapeut Kay Bartrow rät Faszientrainings-Anfängern: „Der wichtigste Grundsatz lautet: Wenn es sich gut anfühlt, ist es auch gut und gesund!“ Wer dran bleibt, profitiert doppelt: Zum Effekt des Sich-sofort-besser-Fühlens kommt der Langzeit-Benefit. Denn hat sich das Bindegewebsnetzwerk nach rund 22 Monaten komplett erneuert, geht man deutlich beschwingter, beweglicher, mit weniger Schmerzen und geringerer Verletzungsanfälligkeit durchs Leben.
Mit fitten Faszien durch den Tag
„Keine Zeit“ ist eine beliebte Ausrede, wenn es um Fitnesstraining geht. Auf einem Übungsblatt haben Kristin Adler und Arndt Fengler daher sechs Faszienübungen zusammengestellt, die man in den Tagesablauf einbauen kann. Hausarzt-Leser können das Übungsblatt für Ärzte, MFA und Patienten online herunterladen: http://derhausarzt.eu/patienteninfo
Literatur
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(1) R. Schleip: Active fascial contractility. Implications for musculoskeletal mechanics. Faculty of Medicine, PhD thesis, Ulm University, Germany (2006). Und: R. Schleip, W. Klingler: Eine Studie über die Fähigkeit der Faszien, sich aktiv zu kontrahieren und zu entspannen und dabei die Biomechanik des Körpers zu beeinflussen. Osteopathische Medizin 7(1): 19-21 (2006)
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(2) J. Tesarz, U. Hoheisel, B. Wiedenhöfer, S. Mense: Sensory innervation of the thoracolumbar fascia in rats and humans, Neuroscience 194: 302-8 (2011)