Im Gesundheitswesen bestehen zahlreiche Interessenkonflikte zwischen Patienten, Ärzten, Selbsthilfeorganisationen, Unternehmen und Krankenkassen. Dies ist der Fall, wenn ein sekundäres Interesse überhandnehmen kann und das primäre Interesse in den Hintergrund drängt. Nach der sozialen Reziprozitätsregel lösen Geschenke und Einladungen ein Gefühl der Erwiderung aus. Interessenkonflikte können auch dann vorliegen, wenn man glaubt, dass es nicht der Fall sei. Dabei sei es sehr wichtig, Interessenkonflikte anzugeben und anderen die Möglichkeit zu geben, solche zu erkennen [1], führt Dr. Ulrike Faber, Patientenvertreterin im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), beim Kongress „Armut und Gesundheit“ in Berlin aus.
Patientenportale, -newsletter, -diskussionsveranstaltungen und Patientendialoge der Industrie sollen Kooperationen mit Patienten schaffen. Doch die Hersteller erwarten gerade von Selbsthilfeorganisationen immer Gegenleistungen, wie der Marketingleiter eines Pharmaunternehmens einmal Klartext gesprochen hat [2], sagt Faber. Die Ärzte sind das Nadelöhr. Wenn Ärzte Medikamente nicht verordnen, haben die Hersteller keine Absatzmöglichkeiten, erklärt Allgemeinmediziner Dr. Rolf Kühne, Mitglied bei MEZIS e. V.
Untersuchungen zufolge haben ein Viertel aller neuen Arzneimittel einen gewissen Vorteil [3], das heißt im Umkehrschluss: Dreiviertel haben keinen Zusatznutzen. „Die ärztliche Ethik verbietet die Verordnung dieser 75 Prozent aller neuen Medikamente. Die Unternehmen, die der Gewinnmaximierung verpflichtet sind, müssen das aber unter allen Umständen verhindern“, beschreibt Kühne den bestehenden Interessenkonflikt. In der Konsequenz müssen die Ärzte überzeugt werden. Möglichkeiten dafür sieht Kühne in Fortbildungen, Anwendungsbeobach-tungen, Uni-Chefärzten als Opinion Leader, Pharmareferenten, Ärztemustern, direkten Zuwendungen oder Selbsthilfeorganisationen.
Kühne kritisiert die Methoden der Unternehmen, Ärzte zu beeinflussen. Ärzte, die finanzielle Zuwendungen von Firmen bestätigen, halten sich nach Aussage von Kühne durchweg für unabhängig in ihrem diagnostischen und therapeutischen Vorgehen. Einige Beispiele belegten aber das Gegenteil. Mehr als die Hälfte aller wissenschaftlichen Leiter von Pharma-Studien hatten finanzielle Beziehungen zu dem entsprechenden Unternehmen. Die Ergebnisse dieser Studien korrelierten eindeutig zu den Beziehungen [4].
Ebenso erhalten Ärzte bei Anwendungsbeobachtungen (AWB) teils erhebliche Honorare für das Ausfüllen simpler Fragebögen zu Medikamenten, die sie ihren Patienten verordnet haben. Der Marketingeffekt sei zu beobachten: AWB-Ärzte verordnen noch nach zwei Jahren 26 Prozent häufiger das entsprechende Medikament, für das sie Honorar erhalten hatten, als die Vergleichsgruppe [5].
Transparency International hat recherchiert, dass die Veröffentlichungsrate fünf Jahre nach dem Ende von 558 AWB der Jahre 2008 bis 2010 bei unter einem Prozent lag, führt Kühne aus, der selbst Mitglied bei Transparency ist. Der 2007 in New York gegründete Non-Profit-Newsdesk ProPublica veröffentlichte am 17. März 2016, dass Ärzte, die Geld von Herstellern bekamen -„even just a meal“- einen höheren Prozentsatz an Originalprodukten verschrieben als Ärzte, die dies nicht erhielten.
Was kann man tun?
Kühne rät Ärzten, ihren Patienten unabhängige Entscheidungshilfen bei der Therapiewahl zu bieten, zum Beispiel konkrete Aussagen, um wieviel Prozent das Risiko des Patienten, einen Herzinfarkt/Schlaganfall zu erleiden sinkt, wenn er zehn Jahre Cholesterinsenker, Blutdrucksenker oder Zuckermedikamente einnimmt. Abhängig vom Risikobewusstsein müsse dann jeder Patient für sich entscheiden.
Um ihre Unabhängigkeit zu erhalten, empfiehlt Kühne Ärzten, in ihrer Praxis nicht zu viele Informations- und Werbematerialien von Unternehmen wie Handtücher mit Firmenlogo zu haben, keine Pharmareferenten zu empfangen, sich nicht an AWB zu beteiligen, Individuelle Gesundheitsleistungen nicht offensiv zu vermarkten und eine gemeinsame Therapieentscheidung mit ihren Patienten anzustreben, in der offen über die Datenlage von Medikamenten gesprochen wird.
Die Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte MEZIS e.V. hat zum Ziel, die ärztliche Unabhängigkeit und Objektivität zu stärken und Ärzte für die allgegenwärtigen Beeinflussungen zu sensibilisieren. Die Initiative setzt sich für eine evidenzbasierte und patientengerechte Medikamentenversorgung weltweit ein.
Selbsthilfe setzt auf Selbstkontrolle
Selbsthilfegruppen sind vielgefragte Akteure im Gesundheitswesen. Mit ihren wachsenden Aufgaben steigen auch die Anforderungen an ihre Vertreter in Gremien wie dem G-BA und ihr Bedarf an finanziellen Mitteln. „Dabei ist es für die Selbsthilfe besonders wichtig, dass sie inhaltlich und wirtschaftlich unabhängig arbeiten kann“, betont Dr. Jutta Hundermark-Mayer von der Nationalen Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung der Selbsthilfe (NAKOS).
In Deutschland gibt es etwa 70-100.000 Selbsthilfegruppen, die in 300 bis 400 bundesweiten Selbsthilfeorganisationen organisiert sind. Wirtschafts- und Pharmaunternehmen versuchten, auf Menschen, die in der Selbsthilfe aktiv sind, Einfluss zu nehmen. Das liege daran, dass das besonders mündige Patienten seien, die sich informieren und Bescheid wissen, erläutert Hundermark-Mayer. Um Unabhängigkeit zu wahren, setzt die Selbsthilfe auf Selbstkontrolle. Unabhängigkeitserklärungen, Selbstverpflichtungen oder Leitsätze wie die der BAG Selbsthilfe zur „Zusammenarbeit der Selbsthilfe mit Wirtschaftsunternehmen im Gesundheitswesen“ sollen helfen, Neutralität und Unabhängigkeit zu sichern [6].
Ein Monitoring-Ausschuss des BAG überprüft den Anteil der Zuwendungen am Etat von Selbsthilfeorganisationen. Ein Sponsoringanteil unter 15 Prozent sei demnach unbedenklich, über 40 Prozent nicht akzeptabel. Rolf Blaga, Vorstand der Psoriasis Selbsthilfe Arbeitsgemeinschaft e.V. (PSOAG), sieht die Unabhängigkeit einer Patientenorganisation gefährdet, wenn sie Projekte nur dann durchführen kann, wenn sie industrie-gesponsert sind. Er kritisiert, dass unabhängige Experten, etwa in der Dermatologie, fehlen, um industrie-gesponserte Zahlen und Studien beurteilen zu können und fordert, mit unabhängigen Beratern zusammenzuarbeiten.
Quelle: „Bestechend unbestechlich: Wie kann die Selbsthilfe ihre Unabhängigkeit wahren?“, Kongress Armut und Gesundheit, 16./17.3.17, Berlin
Literatur:
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- nach Prof. Dr. med. David Klemperer, Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen, Umweltmedizin, Selbsthilfegruppenjahrbuch 2008
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- Der Spiegel 3.5.2010. Alles sehr schlicht. Markus Grill u. Boris Kartheuser
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- Prescire International (2015) 24, 107
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- Ahn R et al: Financial ties of principal investigators and randomizend controlled trial outcomes: cross sectional study. BMJ 2017; 356:i6770
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- Andersen, M. et al: JAMA 2006, 295: S. 2759-2764
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- www.bag-selbsthilfe.de/neutralitaet-und-unabhaengigkeit-der-selbsthilfe.html, Zugriff 9.3.2017