Unumstritten sind sie nicht. Aber vermutlich wird ihre schiere Masse die Kritik an ihnen rechts überholen. Die Rede ist von medizinischen Apps, die derzeit zu Zehntausenden den Markt fluten. Die Charismha-Studie des Peter Ludwig Reichertz-Institutes für Medizinische Informatik (PLRI) geht von derzeit rund 100.000 medizinischen Apps aus.Um mit den Apps den Sprung vom zweiten in den ersten Versorgungsmarkt zu schaffen, sind die Krankenkassen für die Hersteller wohl die besten Partner, hieß es auf der Branchenkonferenz der Gesundheitswirtschaft Anfang Juli in Warnemünde. Derzeit werden insgesamt 60 Kassen-Apps angeboten, so die PLRI-Studie.
Besonders für die großen Kassen sind Apps bereits Mittel zur Kundenbindung und Unterstützung. So hat die Techniker Krankenkasse (TK) zum Beispiel die Allergie-App "Husteblume" im Angebot. Über ein Lokalisierungssystem kann die App dem Nutzer standortgenau vorhersagen, mit welchen Pollen er an seinem Aufenthaltsort wann zu rechnen hat. Apps zu Diagnostik und Therapie sind indessen bei den Kassen noch nicht auf dem Markt. Für die Kassen seien die Apps eine Antwort auf die neuen Kundenwünsche, wie Jürgen Heese, AOK Nordost, sagte: "Im digitalen Zeitalter haben wir veränderte Bedürfnisse unserer Versicherten kennengelernt."
Allerdings könnten bestimmte Kassen-Apps die Solidargemeinschaft der Versicherten aushöhlen, meint Martin Schumacher vom Aktionsbündnis Gesundheitsinformationssystem (afgis) e.V. Die Bundesregierung sieht diese Gefahr offenbar nicht.
Für Kassen sind die Apps vor allem Kundenwerbung. Das hat die Charismha-Studie ermittelt: "Insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich gesetzliche Kassen über den gesetzlichen Leistungskatalog kaum differenzieren können, besteht die Möglichkeit über die Angebote von Apps zusätzliche Bekanntheit zu erlangen." Derzeit bieten 29 der vom PLRI befragten 123 Kassen und deren Verbänden zum Beispiel Fitnesstracking über Armbänder an. Die Apps messen etwa die Schrittzahl beim Sport, andere organisieren die Online-Terminbuchungen über das Smartphone oder unterstützen durch digitales Coaching Diabetes-Patienten, sagte Klaus Rupp, Leiter des Fachbereichs Versorgungsmanagement bei der TK.
"Tinnitracks", eine weitere TK-App, filtert aus der Lieblingsmusik des Tinnitus-Patienten die persönliche Störfrequenz heraus. Das heißt, er hört seine Songs ohne die Frequenzen, die seinen Ohren auf die Nerven gehen und beruhigt so die überaktiven Tinnitus-Nervenzellen. "Tinnitracks ist für die Kunden zwölf Monate lang kostenfrei, dann müssen die Versicherten selber zahlen", sagt Rupp.
Wer gesund bleibt, spart?
Künftig könnten die Gesundheitsdaten der Nutzer auch Boni der Kasse auslösen. Die Bundesregierung wäre dafür. Sie antwortete kürzlich in der Antwort auf eine kleine Anfrage der Grünen im Bundestag: "Boni können so das Ziel unterstützen, die individuelle Gesundheit zu erhalten und zu bessern und die Solidargemeinschaft von Ausgaben für Krankenbehandlungen entlasten. Eine Aushöhlung des Solidarprinzips, das in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) insbesondere durch die Einkommensabhängigkeit der Beiträge ge- kennzeichnet ist, findet durch Boni nicht statt."
Das sieht Martin Schumacher von afgis e.V. allerdings anders. "Wenn selektiert werden kann, wer fit ist und wer nicht, und wenn deshalb unter Umständen mehr oder weniger Beiträge bezahlt werden müssen, dann wird das Solidarprinzip ausgehöhlt." Auch der Soziologe Prof. Stefan Selke von der Hochschule Furtwangen warnt. "Ich kann doch nur so lange mit meinen Daten auf den Markt treten, solange sie wirklich gut sind und von einem gesunden Körper zeugen", sagt er. "Dabei stehen wir alle auf dünnem Eis. Wir können sofort krank werden, verarmen, verletzt und damit arbeitsunfähig werden und vieles mehr. Was dann? Zu glauben, man sei stets auf dem richtigen Weg, wenn man nur den richtigen Tracker habe und 10.000 Schritte am Tag laufe, ist naiv. Damit wird das ganze Leben marktförmig organisiert."
Unterdessen schaffen die Kassen Fakten: Mit der App "Fit mit AOK" ist ein Belohnungssystem bereits Realität. "Aber die Kunden, die eine bestimmte Fitness-Punktzahl erreicht haben, erhalten kein Geld, sondern zum Beispiel Zugang zu einem Fitness-Center oder zusätzliche Vorsorgeangebote", sagt Heese. "Die AOK erhält nur die Abrechnungsdaten der App", versichert er, "nicht die Vitaldaten."
Datenschutz: Kampf-Argument oder berechtigte Forderung?
Zu viel Datenschutz bremse die digitalisierte Medizin. Diese Ansicht äußerte unter anderem Prof. Wolfgang Hoffmann, Geschäftsführer des Instituts für Community Medicine und Leiter der Abteilung Versorgungsepidemiologie der Universitätsmedizin Greifswald. "Das Datenschutz-Argument ist zu 80 Prozent ein Kampfargument gegen Neuerungen und mehr Transparenz", so Hoffmann auf einer Podiumsdiskussion. "Und Transparenz ist unbeliebt, weil dann sichtbar wird, wer was macht." Sie habe noch nie zu einem Skandal geführt. "Die Kamera auf der Toilette des Lidl-Marktes ist doch kein Argument gegen die Digitalisierung!"
Haben Ärzte, die mehr Datenschutz fordern, also etwas zu verbergen? Niemand saß auf dem Podium, der die Argumente kritischer Ärzte hätte vortragen können. Man müsse die Kritik der Ärzteschaft und den Wunsch nach Datensicherheit ernst nehmen, betonte aber Mecklenburg-Vorpommerns Sozialministerin Birgit Hesse (SPD) und suchte die ärztliche Kritik an digitalisierte Medizin auf einem anderen Feld zu beschwichtigen: "Wir wollen nicht den Arzt ersetzen, aber gegebenenfalls den Arztbesuch." Sie verwies auf das telemedizinische Kompetenznetzwerk Pädiatrie in Mecklenburg Vorpommern: Kinder, die in Anklam ins Krankenhaus kommen, können per telemedizinischem Konsil durch einen Kinderarzt der Unimedizin Greifswald mit begutachtet werden. "Man kann eben auf dem Land nicht alles vorhalten", sagte Hesse. Auf Dauer sei die telemedizinische Zusammenarbeit auch für Patienten kein Problem, meint Dr. Andreas Meusch, Direktor des Wissenschaftlichen Instituts für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen (WINEG) der TK: "Menschen, die mit Telekonsilen Erfahrungen gemacht haben, akzeptieren sie schnell."
Die Bedarfe hätten sich eben geändert, betonte Hoffmann. "Wenn wir nicht fragen, wie wir es morgen machen wollen, sind die kleinen Einrichtungen auf dem Land irgendwann weg." Die Patienten akzeptierten die digitalisierte Medizin bedingungslos. "Widerstand aber wird von der Zeit weggenommen."