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Forum PolitikMorbi-RSA: von 80 auf alle

„Kranke Versicherte lohnen sich“, lautet ein Vorwurf gegen den Morbi-RSA, der die Gelder aus dem Gesundheitsfonds nach der Morbidität junger und ­alter Versicherter an die Kassen verteilt. Forscher haben dies unter die Lupe genommen und Reformen vorgeschlagen. Das begeistert nicht alle Kassen.

Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundes­versicherungsamt (BVA) ist seiner Linie treu geblieben: Je höher die Zielgenauigkeit der Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds, umso geringer die Verzerrungen im Wettbewerb unter den Krankenkassen, erklärt er in seinem jüngst veröffentlichten Sondergutachten zum morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (mRSA). Mitte November soll die Langfassung vorliegen. Bisher ­konkurrierten Kassen meist über die Beiträge, statt über die Qualität.

Künftig sollen in einem Vollmodell ­alle Diagnosen herangezogen werden, um die Morbidität zu erheben, schlägt das Gremium vor. Derzeit werden dazu nur 80 etwa besonders teure oder chronische Krankheiten für den Finanzausgleich angesetzt. Dieser Kanon soll zur größeren Genauigkeit der Geldverteilung nun erweitert werden. Das Gutachten sorgte bei den Kassen für kontroverse Kommentare.

Was ist fair?

Zu klären war: Welche Regeln sollen gelten, um die Kassen jeweils mit einem fairen Betrag aus dem Fonds zu versorgen? Ziel des mRSA ist es, die Kassen entsprechend der Morbidität ihrer Versicherten aus dem Gesundheitsfonds zu finanzieren. Das Prinzip: Wer kränkere Patienten hat, bekommt auch mehr Geld. Wie krank die Patienten sind, dokumentieren die Ärzte und ­Krankenhäuser, indem sie die Krankheiten ihrer Patienten kodieren. In der Vergangenheit sahen sich einzelne Kassen bei der Verteilung aber immer wieder übervorteilt. Wettbewerber hätten die kodierte Morbidität ­ihrer Versicherten in die ­Höhe getrieben, indem sie in Strukturverträgen eine tiefere Kodierung ihrer ambulanten ­Diagnosen honorierten.

Das Bundesgesundheitsministerium ­hatte den Wissenschaftlichen Beirat beim BVA deshalb beauftragt, ein Sondergutachten zur Wirkung des mRSA zu schreiben. Eine Analyse des Beirats zeigt, dass bei einigen Diagnosen die Nennung ab dem Zeitpunkt angestiegen ist, seit die jeweilige Diagnose für den mRSA relevant geworden ist. Diese Raten seien aber nicht auffällig hoch, wenn man sie mit bevölkerungsbezogenen Diagnosehäufigkeiten vergleicht. Für eine eindeutige Beurteilung reichten aber die Daten insgesamt nicht, schreibt der Beirat. Um Manipulation noch besser vorzubeugen, schlägt das Gremi-um weitere Maßnahmen vor. So solle etwa der Operationen- und ­Prozedurenschlüssel (OPS) für den ambulanten und stationären Sektor gemeldet und Kodierrichtlinien verpflichtend für niedergelassene Ärzte und Krankenhäuser eingeführt werden, um das Geld wirklich fair unter den Kassen zu verteilen. „Wo Kodierrichtlinien sind, da sind sie auch sanktionsfähig“, erläutert der Gesundheitswissenschaftler Prof. Gerd Glaeske.

Zudem will der Beirat ein Register für Selektivverträge schaffen und plädiert dafür, die Vergütung für Selektivverträge vollständig von dokumentierten Diagnosen zu entkoppeln, sofern sie nicht mit zusätzlichen Leistungen einhergehen.

Ältere Multimorbide sind oft überdeckt

Neben dem Vollmodell hat er unter 20 Punkten weitere Vorschläge unterbreitet. Zu den wichtigen gehört auch der Plan, für alte multimorbide ­Patienten weniger Zuschüsse aus dem Fonds auszuzahlen als für junge multimorbide. Bisher werden für den mRSA die verschiedenen Krankheiten alter ­mehrfach erkrankter Versicherter auf­addiert. Hat ein Patient beispielsweise drei Diagno­sen, erhält seine Kasse auch drei Zuschläge, egal wie alt der ­Versicherte ist.

Aber: „Besonders bei alten, multi­morbiden Patienten sehen wir, dass die Zuschüsse aus dem Fonds zu Überdeckungen führen“, sagt der Gesundheitssystem-Ökonom Prof. Jürgen Wasem von der Uni Duisburg-Essen, der Vorsitzender des Beirats ist. Bei jüngeren Patienten dagegen komme es zur Unterdeckung. Der Grund: Bei gleichem Krankheitsbild erhalten junge multi­morbide Patienten offenbar mehr Medizin als ältere, wodurch ihre ­Kosten höher liegen als die Zuweisung aus dem Fonds. Darum sollen künftig die Krankheiten der Alten geringer zu Buche schlagen als die gleichen Krankheiten der Jungen, rät der Beirat.

Auch an der sogenannten Erwerbsminderungsvariable soll gedreht werden. Analysen hätten gezeigt, dass die Behandlungen von Versicherten, die ­eine Erwerbsminderungsrente erhalten, teurer sind als die Behandlungen ­anderer Versicherter, und zwar gemessen an den 80 Krankheiten um mehr als 1.000 ­Euro im Jahr. „Da schlagen wir vor, dass wir künftig nicht mehr pauschal dieses Merkmal ansetzen, sondern nur bei den Krankheiten, bei denen diese Betroffenen einen besonders schweren Verlauf zeigen“, erklärt Wasem. „Und das Maß dieser Verläufe kann dann auch Maß des Zuschusses aus dem Fonds sein. Das macht den RSA gerechter.“

Der Vorschlag, ganz auf die ­ambulanten Diagnosen zu verzichten, ist indessen im Beirat gescheitert. Wasem: „Die ambulanten Diagnosen sollten nach den Erkenntnissen des Beirats im RSA ­bleiben. Sonst wird das Modell viel zu schlecht und ist nicht mehr vertretbar.“ Den von ­Gesundheitswissenschaftler Glaeske einst vorgeschlagenen Risiko-­Pool für besonders schwer und damit teuer Erkrankte lehnt der Beirat aber ab. Es bestehe „keine strukturelle Benachteiligung von Krankenkassen mit hohem Anteil an Hochkostenversicherten“ mehr, so der Beirat. Insofern stimme der generelle Vorwurf, „Kranke lohnen sich“ nicht. Allerdings müsse dazu weiter geforscht werden, hieß es. Um die Gelder zielgenauer zuzuweisen, steht der Beirat etwa einer Pharmakomponente als Aufgreifkriterium positiv gegenüber und verweist auf die „erklärende Kraft, die Arzneimittelinformationen für die prospektive Kostenschätzung von Versicherten haben.“

Die Reaktionen der Krankenkassen auf das Sondergutachten fallen sehr unterschiedlich aus. Jürgen Hohnl, Geschäftsführer der gemeinsamen Vertretung der Innungskrankenkassen, IKK e.V., sagte: „Auf den ersten Blick waren die Gutachter scheinbar nicht selbstkritisch oder mutig genug, von ihrem Fokus auf die Zielgenauigkeit abzugehen.“ Barmer-Vorstandsvorsitzender Prof. Christoph Straub erklärte, es würde Jahre dauern, die Vorschläge des Beirats umzusetzen, „dabei stellt die Unwucht im System bereits heute eine Gefahr für die finanzielle Stabilität der GKV dar“.

„Debatte versachlichen“

Franz Knieps, Vorstand des Dachverbandes der BKKen, sagte sogar: „Die Vorschläge des Beirats geben benachteiligten Kassen Steine statt Brot.“ Die Techniker Krankenkasse kritisiert, das Vollmodell sei das Gegenteil einer manipulationsresistenten Lösung. Einzig die AOK lobte die vom Beirat angestrebte höhere Zielgenauigkeit des RSA. Der ­Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundes­verbands Martin Litsch erklärte: „Endlich verfügen wir über eine umfassende Expertenmeinung. Auf dieser Basis lässt sich die teils hitzige Debatte um eine zweckmäßige Weiterentwicklung des Morbi-RSA wieder versachlichen.“

Im kommenden Jahr wird der Beirat ein weiteres Gutachten schreiben. Es soll klären, ob ein Regionalfaktor in den mRSA eingearbeitet werden soll. Denn die Versorgung von Patienten auf dem Land ist billiger als von Patienten in den Städten.

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