T. Ragik (alle Namen geändert) hatte kein Glück im Leben. Mit 45 kam für sie auch noch Pech dazu: Amyotrophe Lateralsklerose. Und das Deutsche Gesundheitssystem zeigte sein Sonntagsgesicht. Die Universität diagnostizierte umfangreich, eine spezialisierte Schweizer Klinik rehabilitierte mit gewohnter Schweizer Exklusivität bei Exaktheit der Klassifizierung, Evidenzbasiertheit der Diagnose und bei der Rechnungshöhe.
Verlauf und Lebensqualität verbesserte der teure Aufwand erwartbar nicht, wohl allerdings die Bewilligung der erforderlichen Hilfsmittel. Bald wurde aller Evidenzbasierung zum Trotz der Umzug ins Pflegeheim unabwendbar. Ergo- und Physiotherapeuten mühten sich dort engagiert auf vergleichsweise preisgünstige, pragmatische Weise den Horror dieses Leidens zu lindern.
I. Schmidt optimierte für ihre Versicherung die Krankengymnastik-Kosten. Deshalb legte sie die Verschreibungen den „Expertinnen und Experten“ des MDK zur Begutachtung vor. Ohne Kontakt mit Hausarzt oder gar, schrecklicher Gedanke, Patientin, aufzunehmen. Der MDK befand, angesichts der bisherigen Verordnungen sei mittlerweile eine „aktivierende Pflege“ ausreichend.
Als dieser Bescheid eintraf, konnte T. Ragik dank Spenden mildtätiger Freunde im letzten Moment ihren seit Anbeginn der Erkrankung feststehenden Plan umsetzen. Sie suizidierte sich in der Schweiz mit sachkundiger Hilfe. Ein über den Bescheid erboster Brief des Hausarztes empfahl dem MDK, zwecks Qualitätssicherung der gutachtlichen Stellungnahmen, gelegentlich Fortbildungspunkte zu diesem Krankheitsbild zu akkumulieren. Er endete mit der Mitteilung, die Patientin habe ihrem Elend kurz nach dem Ergehen des Bescheides ein suizidales Ende bereitet.
Betroffenheit stellte sich nicht beim MDK ein, sondern beim briefschreibenden Hausarzt. Der erhielt nämlich drei Monate nach Ableben der Patientin den revidierten Bescheid, dass man „auf Grund des ärztlichen Befundberichtes eine zweimalige Krankengymnastik pro Woche für vertretbar hielte. Aber nicht auf neurophysiologischer Grundlage!“
Wenn einer Patientin Krankengymnastik gewährt wird, nachdem sie sich im Angesicht der real existierenden Qualitäts-Palliativmedizin suizidiert hat, kann man das als unschlagbar bizarres Beispiel kontrafaktischer Trotzigkeit zur Bewahrung administrativer Superiorität sehen. Es ist aber mehr.
Es ist das hell aufblitzende Gipfelkreuz eines Müllberges aus selbstverwaltetem paranoidem Kontrollwahn und selbstreferentiellem Qualitäts-Voodoo. Der umwerfend bizarre Ökonomie-Sprech dient dabei dem posthumanen Leviathan „Gesundheitswesen“ als Lendenschurz seiner Habgier.
Der potentielle Hausarzt-Nachwuchs stimmt längst mit den Füßen ab. Er meidet diesen Berg der Fäulnis, auf dem Politprediger Realität durch Reden wegvisionieren, meidet die KV-Organisation „Ärzte ohne Gelder“ und überlässt die Vereinbarkeit von Beruf und Altersarmut angestellten Nebenerwerbs-Landärztinnen. Der Hausarzt-Bestand flieht dort in die Hausarztverträge, wo er das kann, während die Beutepolitiker den Abgrund zwischen Intention und Anstand ihrer „Reformen“ zutexten.