“Unser Ziel ist es, die Versorgung mit medizinischen Cannabinoiden in Deutschland zu verbessern”, erklärte Dr. Johannes Horlemann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS), bei der Vorstellung erster Ergebnisse der DGS-Schmerzinitiative.
Dabei sei der Medizinalcannabis strikt vom Cannabis-Freizeitkonsum abzugrenzen. Im Medizinalbereich handele es sich um schwerkranke Menschen, bei denen die Standardtherapien nicht wirksam sind, nicht vertragen werden oder Kontraindikationen bestehen.
“Diese Menschen gehören versorgt, während der Freizeitkonsum ganz andere Ziele verfolgt”, forderte Horlemann. Allerdings sorgten in der Vergangenheit einerseits mangelndes Wissen, andererseits administrative Hürden für eine Entmutigung der verordnenden Ärztinnen und Ärzte, sodass laut Horlemann derzeit rund 50 Prozent der bedürftigen Patientinnen und Patienten diese Therapieoption nicht erhielten.
Um diese Situation zu verbessern, startete die DGS gemeinsam mit Industrie-Sponsoren eine Initiative zur Verbesserung der Qualität der Patientenversorgung mit medizinischen Cannabinoiden.
Was die Initiative erreicht hat
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat beschlossen, dass eine Genehmigung durch die Krankenkassen nur für die Erstverordnung medizinischer Cannabinoide notwendig ist.
In der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung (SAPV) entfällt sie komplett. Die Antragsfrist für stationäre Fälle wurde grundsätzlich auf drei Tage reduziert – dies gilt auch für Menschen in der Allgemeinen Ambulanten Palliativen Versorgung (AAPV).
Für Nordrhein schloss die DGS mit der AOK Rheinland/Hamburg einen Selektivvertrag, in dessen Geltungsbereich der Genehmigungsvorbehalt auch im ambulanten Sektor komplett entfallen kann.
Die DGS-Praxisleitlinie “Cannabis in der Schmerzmedizin” von 2022 wird derzeit überarbeitet und ergänzt. Die aktualisierte Version wird sowohl neue Applikationsformen (Extrakte, Blüten) als auch neue Indikationen enthalten, wie etwa viszerale Schmerzen, gynäkologische Indikationen (z.B. Endometriose oder chronic pelvic pain) sowie rheumatologische Indikationen und das Fibromyalgiesyndrom.
“Es ist ein Segen, dass wir Patientinnen und Patienten, deren sonstige Therapie ausgeschöpft ist, mit den Cannabinoiden ein Angebot machen können”, betonte DGS-Präsident Horlemann. Dabei ist die Verordnung nicht auf bestimmte Facharztgruppen beschränkt.
Nutzen-Sicherheits-Profil im Vergleich
Die Wirkung der zugeführten Cannabinoide beruht auf dem endogenen Cannabinoid-System, dessen Cannabinoid(CB)-Rezeptoren in vielen verschiedenen Organen und Geweben lokalisiert sind. So finden sich CB1-Rezeptoren vor allem im zentralen und peripheren Nervensystem und in unterschiedlichen Organen, während CB2-Rezeptoren hauptsächlich in Zellen des Immun- und hämatopoetischen Systems exprimiert werden.
Da CB1-Rezeptoren – im Gegensatz zu Opioidrezeptoren – nur in geringer Konzentration im Atemzentrum vorkommen, kommt es unter Cannabinoiden nicht zur Atemdepression.
Horlemann stellte eine “Multicriteria Decision Analysis (MCDA)” einer Expertengruppe vor. Sie bewertete verschiedene Arzneimittel zur Behandlung von chronischen neuropathischen Schmerzen mit einem Ranking von 0 bis 100 in verschiedenen Eigenschaften.
Die Expertengruppe sah für Cannabinoide ein besseres Nutzen-Sicherheits-Profil als für andere häufig verwendete Arzneimittel, vor allem wegen eines größeren Beitrags zur Lebensqualität und eines günstigeren Nebenwirkungsprofils [1]. Bei einem Teil der an der MCDA beteiligten Experten bestanden allerdings Interessenkonflikte.
In der Analyse mit 17 für Nutzen und Sicherheit relevanten Wirkungskriterien schnitten Arzneimittel auf Cannabisbasis (THC/CBD 1:1) bei den Experten am besten ab, gefolgt von CBD-dominanten und THC-dominanten Arzneimitteln, Duloxetin, Gabapentinoiden, Amitriptylin, Tramadol, Ibuprofen, Methadon, Oxycodon, Morphin und Fentanyl.
Verringerter Opioid-Konsum
Die Einnahme von Cannabinoiden reduziert den Einsatz verschreibungspflichtiger Opioide deutlich und verbessert die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten. Zu diesen Ergebnissen kam eine vom Cannabis-Unternehmen Tilray unterstützte prospektive Studie aus Kanada, welche die Daten von 1.145 Männern und Frauen analysierte, die meist unter chronischen Schmerzen litten [2].
So konsumierten zu Beginn der Studie 28 Prozent Opioide, nach sechs Monaten nur noch 11 Prozent. Der tägliche Opioidkonsum sank von 152 mg Morphin-Milligramm-Äquivalent (MME) auf 32,2 mg MME, was einer Verringerung der durchschnittlichen Opioiddosis um 78 Prozent entspricht.
Zugleich beobachteten die Autoren eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität bei allen Nachuntersuchungen, mit den größten Veränderungen bei der körperlichen (36 Prozent Anstieg) und psychischen Gesundheit (17 Prozent Anstieg).
Horlemann verwies auf aktuelle Daten zur Gehirnforschung, die belegten, dass die Neuroinflammation – welche an allen klinisch relevanten Formen chronischer Schmerzen beteiligt ist – durch Opioide eher noch angefeuert werde, wogegen Cannabinoide das Entzündungsgeschehen beruhigten [3].
“Das ist ein sehr schwerwiegender Befund aus der Grundlagenforschung, der uns in der Schmerzmedizin noch einmal neu über die Stellung von Cannabinoiden gegenüber Opioiden nachdenken lässt”, erklärte Horlemann.
Bedeutung für die Palliativmedizin
Für Schwerstkranke in der palliativen Situation bestehe eine breite Indikation für Cannabinoide. Diese spiele besonders bei der Schmerzreduktion eine große Rolle, wirkten aber auch appetitsteigernd und so zum Beispiel einer Tumorkachexie entgegen. Zudem verfügten Cannabinoide über antiemetische, schlaffördernde, entspannende, muskelrelaxierende und antiinflammatorische Wirkungen.
“Mittlerweile erhalten vier von zehn meiner palliativen Patientinnen und Patienten bei ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus Cannabinoide”, berichtete der Vizepräsident der DGS Norbert Schürmann.
Literatur:
- Nutt D et al. Cannabis Cannabinoid Res 2022; 7(4):482-500
- Lucas P et al. Pain Med 2021; 22(3):727-739
- Deutscher Schmerz- und Palliativtag 2023; Präsentation Sym01, Prof. Jürgen Sandkühler, 14.03.2023
Quelle: Pressekonferenz “DGS-Schmerzinitiative zur Versorgung mit medizinischen Cannabinoiden: Erste Ergebnisse der Qualitätsoffensive”, am 24.5.23