Für viele Menschen gilt die tägliche Einnahme eins Multivitamin-/Mineralpräparats als Versicherung gegen einen Mangel. Wie ist die Versorgung in Deutschland? Gibt es Teile der Bevölkerung, die ein erhöhtes Risiko für einen Mangel an bestimmten Mikronährstoffen haben?
Heseker: Unsere großen bundesweiten Verzehrstudien zeigen deutlich, dass in allen Altersgruppen bei einer vollwertigen, energieadäquaten – ab etwa 1800 kcal/Tag – und abwechslungsreichen Ernährung (fast) alle Vitamine ausreichend aufgenommen werden. Eine Ausnahme ist Vitamin D, das wir allerdings zum größten Teil nach Sonnenbestrahlung der Haut selbst bilden können.
Probleme mit einer ausreichenden Nährstoffversorgung können sich ergeben, wenn freiwillig oder krankheitsbedingt über längere Zeit nur kleine Nahrungsmengen aufgenommen werden, beispielsweise bei Appetitverlust im hohen Alter, bei längeren Phasen mit Reduktionsdiäten oder bei Anorexia nervosa. In diesen Situationen kommt es zu einer Unterversorgung mit nahezu allen Nährstoffen, einschließlich Protein. Dies gilt auch bei sehr einseitiger Ernährung oder wenn im Rahmen der aktuellen "Frei von"-Wellen wichtige Lebensmittelgruppen gezielt weggelassen werden, etwa frei von Weizen oder Gluten, frei von Laktose, frei von Fruktose, frei von Fleisch usw. Bei veganer Kost muss besonders auf eine ausreichende Deckung des Bedarfs an Vitamin B12, Eisen, Jod und Protein, bei glutenfreier Ernährung auf die Zufuhr von Ballaststoffen, bei fruktosefreier Ernährung auf die Zufuhr von Vitamin C und bei laktosefreier Ernährung auf die Versorgung mit Vitamin B2 und Kalzium geachtet werden.
Kann die Nahrungsergänzung mit einem Multivitaminpräparat vor einem Mangel schützen? Und, viel wichtiger: Nützt das auch der Gesundheit?
Bei einer vollwertigen, energieadäquaten Ernährung ist eine zusätzliche Ergänzung der Nahrung mit Vitaminen oder Mineralstoffen nicht erforderlich. Eine vollwertige Kost mit einem hohen Anteil wenig verarbeiteter Lebensmittel ist reich an Vitaminen, Mineralstoffen und Ballaststoffen und kann nicht durch eine nährstoff- und ballaststoffarme (Fastfood)-Ernährung mit zusätzlicher Einnahme eines Nahrungsergänzungsmittels ersetzt werden. Lebensmittel sind mehr als die Summe ihrer einzelnen Bestandteile!
Die zusammenhängende Auswertung großer Studien kam zu dem eindeutigen Ergebnis, dass auch eine längerfristige Einnahme von Multivitaminpräparaten keinerlei positiven Einfluss auf die Gesundheit und Lebenserwartung hat. Die weit verbreitete Vorstellung, durch die Einnahme von Multinährstoffpräparaten Krankheitsprävention zu erreichen, ist ohne wissenschaftliche Basis.
Ist die Gabe von Folsäure für Schwangere sinnvoll?
Zur Reduzierung des Risikos von Neuralrohrdefekten beim Neugeborenen empfehlen Fachgesellschaften Frauen, die schwanger werden wollen, bereits einige Wochen vor einer geplanten Schwangerschaft Folsäuretabletten einnehmen, um zum Zeitpunkt einer Konzeption und besonders in den ersten Schwangerschaftswochen eine optimale Versorgung mit Folat zu gewährleisten.
Wie steht es mit der Vitamin-D-Versorgung bei Älteren oder Menschen, die ihre Haut konsequent verhüllen?
Ältere Menschen, die ans Haus gebunden sind, oder Personen die beispielsweise aus religiösen Gründen ihren Körper verhüllen und keinerlei Haut der Sonne aussetzen, können ihren Vitamin-D-Bedarf nur durch Einnahme eines entsprechenden Supplements decken. Auch ist die Studienlage eindeutig, dass Vitamin-D-Supplemente im Seniorenalter das Sturz- und Frakturrisiko senken und auch die Muskelkraft verbessern.
Neben Vitaminen und Spurenelementen gibt es eine Vielzahl weiterer Nahrungsergänzungsmittel, von Q10 über Karnitin bis zu Cocktails von Antioxidanzien, die vor Krebs schützen und das Altern aufhalten sollen. Was sagen Studien über deren Nutzen?
In gut kontrollierten Studien konnten die postulierten Effekte dieser Substanzen nicht bestätigt werden. Für Betacarotin wurde sogar nachgewiesen, dass hoch dosierte Einnahme unter anderem das Lungenkrebsrisiko signifikant erhöht. Leider können auch Cocktails mit anderen Antioxidanzien wie Vitamin C und E oder auch mit sekundären Pflanzenstoffen weder die Entstehung von Krebs- oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen verhindern noch Alterungsprozesse verlangsamen.
Obwohl für Nahrungsergänzungsmittel keine Indikationen genannt werden dürfen, sind "Health Claims" erlaubt, zum Beispiel "Stärkung der Abwehrkräfte" oder "Schutz für Gelenke, Sehnen und Knochen".
Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA hat in den letzten Jahren Tausende von nährwert- und gesundheitsbezogenen Aussagen über Beziehungen zwischen einem Lebensmittel beziehungsweise einem seiner Bestandteile und der Gesundheit, sogenannte Health Claims, unter die Lupe genommen. Demnach darf ein Health Claim nur dann für ein Produkt oder einen Nährstoff verwendet werden, wenn hierfür eine ausreichende wissenschaftliche Evidenz vorliegt und dieser nach der Zulassung in einer Positivliste der Europäischen Kommission mit inzwischen etwa 250 Health Claims aufgeführt wird. Zugelassen hat die EU überwiegend Werbung für Vitamine und Mineralstoffe. Hersteller, die bestimmte Mengen zusetzen, dürfen zum Beispiel damit werben, dass Vitamin C zur normalen Funktion des Immunsystems beiträgt oder Kalzium für die Erhaltung normaler Knochen benötigt wird. Das gilt für alle Arten von Lebensmitteln, also auch für Nahrungsergänzungsmittel.
Auf Selbsthilfeforen für chronisch Kranke werden zum Teil Nahrungsergänzungsmittel mit abenteuerlichen Wirkungsbeschreibungen empfohlen. Was sollen Hausärzte ihren Patienten raten, die mit so einer Empfehlung kommen?
Hier ist große Vorsicht angesagt. Werbeaussagen und Versprechen, die zu gut klingen, um wahr zu sein, sollte man mit einer gehörigen Portion Skepsis begegnen. In vielen Fällen ist zwar kein gesundheitliches Risiko mit diesen Produkten verbunden, aber ein hohes ökonomisches, indem man Geld für Dinge ausgibt, die nachgewiesenermaßen wirkungslos sind. Auch sollen zum Beispiel Patienten mit Zeichen von Angina Pectoris nicht versuchen, sich mit vermeintlich herzgesundem Vitamin E oder Fischölkapseln selbst zu therapieren, sondern die Symptome zeitnah vom Hausarzt abklären lassen.
Prof. Dr. oec. troph. Helmut Heseker ist Ernährungswissenschaftler am Institut für Ernährung, Konsum und Gesundheit der Universität Paderborn