HIVGute Therapieerfolge – Defizite bei der Diagnose

Die WHO hat ehrgeizige Ziele für die HIV-Versorgung gesteckt. Deutschland ist auf einem guten Weg, diese bis zum Jahr 2020 zu erreichen, doch bis dahin sind noch einige Barrieren zu überwinden.

Positiv: Längst nicht jeder weiß von seiner HIV-Infektion

90-90-90 lautet die angestrebte Formel. Dahinter verbirgt sich, dass 90 Prozent aller, mit HIV-infizierten Menschen über ihre Infektion Bescheid wissen sollten, 90 Prozent eine antiretrovirale Therapie erhalten und von diesen 90 Prozent eine Viruslast an oder unter der Nachweisgrenze erreichen. “Ein weiteres wichtiges Ziel lautet, dass 0 Prozent der Menschen mit HIV diskriminiert werden sollten”, ergänzte Dr. Axel Baumgarten, Vorstand der dagnä (Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter e.V.), Berlin.

Nach Schätzungen des RKI liegen die aktuellen Zahlen für Deutschland bei 86-86-93, d.h. 86 Prozent der HIV-Infizierten sind diagnostiziert, 86 Prozent werden therapiert und davon erhalten 93 Prozent eine erfolgreiche Behandlung. Im Bereich der Therapie ist die Lage also sehr erfreulich und auch das Versorgungsnetz ist mittlerweile gut ausgebaut.

“Außerdem haben wir hierzulande die Möglichkeit, alle relevanten HIV-Medikamente einzusetzen – das ist keine Selbstverständlichkeit wie der Blick auf andere westeuropäische Länder zeigt”, lobte Baumgarten. Um auch die ersten beiden Ziele zu erreichen – die Diagnose und die therapeutische Versorgung aller Infizierten – sind hingegen noch einige Anstrengungen erforderlich.

Problem: Späte Diagnose

Etwa die Hälfte der Menschen mit HIV werden erst diagnostiziert, wenn ihre CD4-Zellzahl unter 350 pro Mikroliter liegt – und sie somit in der Regel als therapiebedürftig gelten. Das bedeutet, dass sie bereits mehrere Jahre unwissentlich infiziert waren und die Erkrankung weitergeben konnten. Laut RKI betrifft das in Deutschland etwa 12.700 Menschen.

“Unbehandelt können Folgeerkrankungen, Behinderungen und lebenslange Schädigungen auftreten, die sich durch eine frühzeitige Diagnose und Therapie vermeiden lassen”, betonte Baumgarten. Bei den sogenannten ‚Late Presenters‘ handelt es sich häufig um Frauen, Patienten mit Migrationshintergrund oder ältere heterosexuelle Männer – also Personen, bei denen man nicht unbedingt an eine HIV-Infektion denkt.

Versorgungssysteme optimieren

Als Hausarzt sollte man beispielsweise bei wiederholtem Auftreten einer Gürtelrose aufmerksam werden. Welche Marker-Erkrankungen noch auf einen Immundefekt hindeuten – und damit einen Hinweis geben, an einen HIV-Test zu denken – steht in der Broschüre “HIV früh erkennen – Aids vermeiden”. Sie wurde von der Deutschen AIDS-Hilfe im Rahmen der Kampagne “Kein Aids für alle!” speziell für Hausarztpraxen aufgelegt (www.aidshilfe.de).

Die HIV-PräExpositionsProphylaxe (PrEP) wird laut Baumgarten nach wie vor intensiv diskutiert. Sein Fazit angesichts der Zulassungsstudien lautete: “PrEP ist wirksam. Wenn wir bei der richtigen Zielpopulation die richtigen Maßnahmen inklusive PrEP ergreifen, kann dies zu einer Verringerung der HIV-Neuinfektionen um rund 85 Prozent führen.” Damit ließen sich bis zum Jahr 2013 rund 9.000 HIV-Infektionen in Deutschland verhindern, also mehr als ein Drittel.

Dazu kommt die Kostenersparnis durch die Präventionsmaßnahme. Laut Baumgarten lohnt es sich daher, weiterhin über Konzepte und mögliche Zugänge für PrEP zu diskutieren und einheitliche Strategien zu entwickeln.

Zudem sind Anstrengungen erforderlich, um niedrigschwellige Zugänge zu schaffen, die es ermöglichen, mehr Infizierte zu erreichen und frühzeitig zu diagnostizieren.

Als weitere Bruchstelle nannte der Referent die “sektorenübergreifende Zusammenarbeit”. So sollten die Angebote zu Prävention, Diagnostik und Behandlung mancherorts noch enger mit der Selbsthilfe verzahnt werden. Teilweise seien nur wenige Stellschrauben zu verdrehen, um eine erfolgreiche Zusammenarbeit zu ermöglichen. Als positives Beispiel nannte Baumgarten das “Schöneberger Modell” in Berlin, ein Netzwerk aus Kliniken, HIV-Schwerpunktpraxen und freien Trägern, das sich um die Behandlung und Betreuung HIV-infizierter Menschen kümmert.

Allgegenwärtige Diskriminierung

Zur Diskriminierung gibt es laut Baumgarten keine harten Daten. Allerdings ergab eine Untersuchung der deutschen AIDS-Hilfe im Jahr 2012, dass drei Viertel der Menschen mit HIV im Alltag diskriminiert wurden. Das reichte von übler Nachrede über Beleidigungen bis hin zu tätlichen Angriffen.

Zudem erlebte jeder fünfte HIV-Patient im Kontakt zum Gesundheitswesen eine Stigmatisierung; beispielsweise verweigerte der Zahnarzt die Behandlung aufgrund der Infektion. “Auch im Jahr 2018 bekommen wir noch Rückmeldungen über Diskriminierungen und Stigmatisierung im Gesundheitssystem”, berichtete Baumgarten.

Nicht nur im Gesundheitssystem, auch im Berufsleben haben die Betroffenen mit Vorurteilen zu kämpfen. Gemäß dem Votum des Nationalen AIDS-Beirats (2012) sind “die meisten Menschen mit HIV berufstätig, uneingeschränkt beruflich belastbar und nicht öfter krankgeschrieben als nicht-infizierte Kollegen. Es gibt keine Tätigkeits- oder Berufsverbote, Menschen mit HIV können ihren Beruf frei wählen und uneingeschränkt ihrer Tätigkeit nachgehen.”

Die Angst vor Ansteckung ist groß

Soweit die offizielle Version, die Realität sieht teilweise anders aus. So berichtete Dr. Jens Jarke, Allgemeinarzt aus Hamburg, dass die Polizeibehörden der Länder und des Bundes aufgrund einer “Infektionsgefahr für den Bürger” keine HIV-Infizierten einstellen. Die Deutsche AIDS-Hilfe und die Antidiskriminierungsstelle des Bundes könne diese Begründung nicht nachvollziehen und sehe darin eine schwere Diskriminierung. “Die Angst vor einer Ansteckung durch den Kontakt mit einem HIV-positiven Menschen ist nach wie vor ein riesiges Problem”, erklärte Jarke.

Aller Aufklärung zum Trotz wissen nur 10 Prozent der Bevölkerung, dass ein gut therapierter HIV-Patient mit einer Viruslast unter der Nachweisgrenze nicht infektiös ist. Daher erfahren die Betroffenen nach wie vor vielfältige und grundlose Diskriminierung – vor allem in sensiblen Bereichen wie der Kinderbetreuung oder in medizinischen Berufen.

Satellitensymposium der dagnä “Perspektiven in der HIV-Versorgung 2010 – wo stehen wir, wo wollen wir hin?”, anlässlich der 17. Münchner AIDS- und Hepatitis-Tage am 23.03.2018 in Berlin.

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