Der Begriff Multimorbidität wird unterschiedlich gebraucht. Meist wird von Multi- morbidität gesprochen, wenn mindestens zwei chronische Erkrankungen gleichzeitig vorliegen. Dafür hat man früher den Begriff Komorbidität verwendet. Aktuell werden die Begriffe Multimorbidität und Komorbidität oft synonym verwendet. In der hausärztlichen Versorgung sind Patienten mit Multimorbidität die größte Gruppe, deutlich größer als jede Patientengruppe mit jeweils nur einer Erkrankung. Überdies nimmt die Zahl multimorbider Patienten durch die steigende Lebenserwartung immer weiter zu. Daher spielt das Thema Multimorbidität in der Hausarztpraxis eine überragende Rolle. Hinzu kommt, dass Menschen mit Multimorbidität häufig mehrere tödlich verlaufende Erkrankungen gleichzeitig haben und daher regelhaft einen hohen palliativen Versorgungsbedarf aufweisen. Ein Fallbeispiel soll dies demonstrieren.
Ziel der Palliativversorgung ist die Gewährleistung der bestmöglichen Lebensqualität und von möglichst viel Autonomie. Multimorbidität geht regelhaft mit einer Einschränkung des funktionellen Status, einem dadurch bedingten Verlust an Lebensqualität sowie einer erhöhten Mortalität einher. Es entsteht daher bei Multimorbidität besonders häufig ein palliativer Versorgungsbedarf auf unterschiedlichen Ebenen. Weitere Einschränkungen der Autonomie und Lebensqualität können dadurch entstehen, dass der Betroffene die anderen nicht versteht beziehungsweise sich selbst nur schwer verständlich machen kann. Schlechtes Sehen, Schwerhörigkeit, Verlangsamung, Konzentrationsschwäche, rasche Ermüdbarkeit, Vergesslichkeit z.B. im Rahmen einer demenziellen Veränderung erschweren die Kommunikation, die Respekt und Wertschätzung für den Betroffenen, Einfühlungsvermögen, Geduld und Zeit erfordert.
Für multimorbide Menschen, die zunehmend diesbezüglich eingeschränkt und daher auf die Hilfe anderer angewiesen sind, ist das Gelingen der Kommunikation ein sehr wichtiges Anliegen. Dabei gilt es, besonders achtsam die individuellen Bedürfnisse, Wünsche und Ziele zu erfassen. Dies erfordert eine möglichst gute Kommunikation zwischen dem betroffenen Menschen, seinen Angehörigen, stellvertretend Entscheidenden und seinem gesamten Umfeld.
Achtung und Selbstbestimmung
Erreicht werden soll eine möglichst frühzeitige Aufklärung und Kommunikation über die Diagnosen und Prognosen mit dem Patienten und seinen Stellvertretern. Da die Prognose bei Multimorbidität (wie z.B. an dem Fallbeispiel demonstriert) regelhaft sehr unsicher ist und unerwartete Ereignisse oder krisenhafte Zuspitzungen häufig sind, ist in der Palliativversorgung die gesundheitliche Versorgungsplanung von großer Bedeutung, damit in Krisensituationen klar ist, was im Sinne der Patientenautonomie geschehen soll. Bei dem Konzept der gesundheitlichen Versorgungsplanung (Behandlung im Voraus planen BVP) für die letzte Lebensphase (§132g SGB V) soll eine Beratung über die medizinisch-pflegerische Versorgung und Betreuung in der letzten Lebensphase angeboten werden und es sollen Hilfen und Angebote der Sterbebegleitung aufgezeigt werden.
Deshalb ist ein moderierter Gesprächsprozess sinnvoll, mit dem Ziel, die Bildung und Formulierung des Behandlungswillens zu unterstützen und einen Vertreter zu befähigen, diesen Willen umzusetzen. Besondere Herausforderungen stellen sich, wenn die Entscheidungsfähigkeit des Patienten zeitweilig oder dauerhaft nicht (mehr) gegeben ist. Hier ist eine Integration aller Willensäußerungen des Betroffenen (Vorausverfügung, mutmaßlicher Wille, natürlicher Wille) bedeutsam.
Menschen mit Multimorbidität erhalten im Krankheitsverlauf in der Regel eine Vielzahl von Medikamenten (=Polypharmazie) und weitere nichtmedikamentöse Therapien zum Teil von mehreren Behandlern. Besonders bei Menschen in palliativer Versorgung muss jedes Medikament und jede nichtmedikamentöse Maßnahme auf den aktuellen Vorteil für die gegenwärtige Situation überprüft werden. Prognostische Einschätzungen sind dabei wichtig (z.B. unter Zuhilfenahme der sog. Surprise Question: „Würde es Sie wundern, wenn der/die Patient/in im nächsten Jahr/nächsten halben Jahr verstirbt?“).
Die gezielte Symptomerfassung muss an mögliche Kommunikationserschwernisse angepasst werden. Während Medikamente zur Schmerz- und Symptomlinderung ggf. neu angesetzt werden müssen, verlieren Medikamente zur Behandlung der unter Umständen sehr unterschiedlichen Grunderkrankungen je nach deren Fortschreiten häufig an Bedeutung.
Die Zahl der zur Schmerz- und Symptomlinderung verordneten Medikamente sollten möglichst gering gehalten werden. In der Palliativversorgung können einige typische Medikamente (z.B. Opioide für Schmerz- und Luftnot, Mirtazapin für Depression, Juckreiz, neuropathischen Schmerz) für mehrere Indikationen gleichzeitig eingesetzt werden.
Im Rahmen eines interprofessionellen palliativen Versorgungskonzepts ist es bei Multimorbidität besonders wichtig, nichtmedikamentöse Therapieformen einzubeziehen (z.B. Physiotherapie, Ergotherapie, Sprach-/Schlucktherapie, physikalische Therapie, Aromatherapie, Musik-, Kunstthera-pien, Yoga), da medikamentöse Therapien oft kontraindiziert oder besonders durch Nebenwirkungen belastet sind. Manche Symp-tome verbessern sich fast nur unter nichtmedikamentösen Therapien (z.B. Fatigue), bei manchen Symptomen sind nicht medikamentöse Verfahren außerordentlich wirksam (z.B. Schmerz, Luftnot).
Der größte Teil der Bevölkerung hat den Wunsch, zu Hause zu sterben. Jedoch erfordert die Komplexität der Versorgung bei Multimorbidität mit der Gefahr häufiger Krankenhauseinweisungen eine gute Vernetzung aller an der Versorgung Beteiligten, eine gute Vorausplanung (Advance Care Planning) und die Einbindung palliativer und/oder Hospiz- Angebote. Palliativversorgung muss sich den besonderen Anforderungen bei Multimorbidität stellen und anpassen.
Fazit
Palliative Versorgung bei Multimorbidität ist besonders herausfordernd, da sich die Symptome mehrerer Erkrankungen überlagern, häufig Kommunikationserschwernisse wie Schwerhörigkeit, Demenz etc. bestehen, die Prognosestellung komplizierter wird, was Vorausplanungen und stellvertretende Entscheidungen deutlich erschwert. Dies erfordert Symptom-orientiertes Vorgehen, achtsame, auf die individuellen Veränderungen eingehende Kommunikation und Polypharmazie vermeidende Therapien, die sich den zahlreichen Kontraindikationen stellen sowie nichtmedikamentöse Verfahren besonders berücksichtigen.
Fallbeispiel
Frau S. ist 85 Jahre alt. Bei ihr bestehen seit vielen Jahren ein arterieller Hypertonus und ein Diabetes mellitus mit bereits manifestierter Polyneuropathie. Sie hat daher bereits mehrere kleine Schlaganfälle erlitten (mit leichter Hemiparese rechts, Wortfindungsstörungen und Gangdyspraxie) und es besteht eine bereits fortgeschrittene Herzinsuffizienz. Aufgrund der mikrovaskulären zerebralen Schädigung besteht eine Demenz. Außerdem bestehen degenerative Wirbelsäulen- und Gelenkveränderungen. Jetzt wurde ein Mammakarzinom neu diagnostiziert.
Eine Symptomerfassung ergibt, dass Frau S. an Schmerzproblemen leidet. Zu den vorbekannten elektrisierenden Schmerzen der Füße und belastungsabhängigen Rückenschmerzen kommen Schmerzen in der rechten Schulter und dem rechten Hüftgelenk. Sie leidet an Luftnot. Außerdem besteht eine bleierne Müdigkeit (Fatigue). Aufgrund ihrer beginnenden Demenz ist die Schmerz- und Symptomerfassung erschwert, denn sie versteht nicht alle an sie gestellten Fragen sofort.
Da ganz unterschiedliche Schmerzursachen vorliegen, gestaltet sich die Schmerztherapie schwierig. Da u.a. ein somatisch nozizeptiver Schmerz vorliegt, teilweise in Form eines incident pain, der nur bei Belastung auftritt, wäre ein Stufe- Eins-Analgetikum günstig. Aufgrund der Multimorbidität sind alle NSAR kontraindiziert. Es wird daher Metamizol ausgewählt. Zusätzlich wird, da einerseits die Metamizolwirkung nicht ausreicht und außerdem eine neuropathische Schmerzkomponente (Polyneuropathieschmerz) vorliegt, ein Opioid ergänzt. Das Opioid wird soweit (30-50 Prozent) über die „Schmerzschwelle“ angehoben, so dass gleichzeitig die Luftnot behandelt werden kann. Außerdem erhält die Patientin eine intensive Physiotherapie gegen die Fatigue-Symptomatik und zur nichtmedikamentösen Therapie der Schmerzen und Luftnot. Auch die Fatigue-Symptomatik kann sowohl durch die Herzinsuffizienz als auch durch das neu diagnostizierte Mammakarzinom verursacht sein.
Es ist unklar, ob das neu diagnostizierte Mammakarzinom mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten behandelt werden soll. Da Frau S. auch an einer Demenz leidet, kann sie die Informationen nur teilweise verstehen und kaum selbst eine Entscheidung treffen. Die Angehörigen, die auch Vorsorgebevollmächtigte sind, werden im Sinne einer stellvertretenden Entscheidung nach dem mutmaßlichen Willen in die Entscheidungsfindung eng eingebunden. Die Angehörigen möchten wissen, wie lange sie mit diesen Erkrankungen zu leben hat. Den behandelnden Ärzten fällt es schwer eine entsprechende Prognose abzugeben, da sich mehrere Erkrankungen überlagern, die potenziell tödlich verlaufen können.
Es ist zumindest aufgrund des fortgeschrittenen Alters und der Vorerkrankungen fraglich, ob das Mammakarzinom prognostisch überhaupt eine große Rolle spielt. Außerdem sind Tumortherapien aufgrund von potenzieller Neurotoxizität bei bereits bestehenden mehrfachen neurologischen Vorschädigungen (Polyneuropathie, zere-brale Mikroangiopathie) und Kardiotoxizität (vorbekannte Herzinsuffizienz) mit besonderen Risiken behaftet.
Literatur:
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Gerhard C: Praxiswissen Palliativmedizin. Thieme Stuttgart 2015
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Gerhard C: Palliativdienst. Hogrefe Bern 2017
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Gerhard C et al.: Palliativversorgung bei Multimorbidität. Palliativmedizin 2017; 18(02): 64-66
Mögliche Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.