Türkische Patienten stellen die größte Gruppe von Migranten mit Diabetes in Deutschland dar. Wie Dr. Mahmoud Sultan, niedergelassener Diabetologe in Berlin berichtete, beträgt die Prävalenz von Diabetes bei türkischen Patienten 12 bis 15 Prozent und ist somit doppelt so hoch wie in der deutschen Bevölkerung mit 6 bis 8 Prozent. "Mit steigender Zuwanderung wird die Anzahl der Diabetes-Patienten in Deutschland weiter zunehmen", gab Sultan zu bedenken. Umso wichtiger ist es für die Hausärzte, sich auf die wachsende Patientenklientel einzustellen.
Unterschiedliches Essverständnis
Das Verständnis von Ernährung unterscheidet sich von Kultur zu Kultur. "Dennoch setzt jeder diejenigen Essgewohnheiten als normal voraus, die er kennt und alltäglich erlebt", verdeutlichte die Diabetesberaterin Helga Varlemann aus Hamburg. Sich diesen Unterschied klar zu machen, ist die erste Voraussetzung für eine "kultursensible Kommunikation", wie sie Varlemann fordert. Diese Art der Kommunikation umfasst das Wissen um die eigenen kulturellen Regeln ebenso wie über fremde Regeln, Gewohnheiten und traditionellen Rituale. Dazu kommt die jeweilige Religion, welche das Essverhalten der Menschen prägt.
Dieses Wissen ermöglicht, Missverständnissen vorzubeugen. So versteht man beispielsweise unter einer Portion Obst im hiesigen Kulturkreis häufig einen Apfel. In anderen Kulturkreisen ist es jedoch üblich, einen Teller mit mehreren aufgeschnittenen Obstsorten auf den Tisch zu stellen, von dem sich jeder bedienen darf. "Wenn sie gemeinsam von einem Teller essen, der immer wieder nachgefüllt wird, können sie anschließend kaum angeben, wie viel sie gegessen haben. Nichts davon zu essen kommt einer Beleidigung gleich", berichtete Varlemann.
Manche Nahrungsmittel gelten erst gar nicht als ‚Essen‘. Dazu zählen etwa Nüsse oder Datteln. Daher empfiehlt Varlemann insbesondere arabische Patienten vor der ‚nüchternen‘ Blutzuckermessung immer nach dem Verzehr von Datteln zu fragen. "Ein hoher morgendlicher Blutzuckerwert ist oft auf die Datteln zurückzuführen, die so nebenbei gegessen, aber eigentlich nicht als Essen betrachtet werden", erklärte die Diabetesberaterin. Auch die verzehrten Mengen unterscheiden sich deutlich. In östlichen Ländern werden sehr viel mehr Kohlehydrate in Form von Beilagen wie Reis aufgenommen. Bei Brot – das etwa bei russisch-stämmigen Migranten zu jedem Essen gereicht wird – handelt es sich immer um Weißbrot, das wesentlich höhere Broteinheiten aufweist als Vollkornbrot.
Analphabetismus und Metaphern
Bei Zuwanderern der ersten Generation ist Analphabetismus gar nicht so selten, wie Varlemann betonte. Gleichzeitig liegt nicht immer ein Verständnis des Zahlenraums vor. "Für manche Patienten ist es nicht selbstverständlich zu wissen, dass 230 im Zahlenraum von 200 bis 250 liegt. Dementsprechend können diese Menschen manche Insulindosispläne kaum verstehen", berichtete die Diabetesberaterin.
Auch das Erleben von Krankheit ist unterschiedlich. Im türkischen Kulturkreis wird Ihrer Erfahrung nach Krankheit als etwas von außen kommendes erlebt. Eine Krankheit, die im Körperinneren entsteht, ist nur schwer vorstellbar. Zudem wird kaum differenziert, welches Organ erkrankt ist, in der Wahrnehmung dieser Patienten ist der ganze Mensch krank. Klagen die Patienten über eine schmerzende oder schwere Leber stehen diese Beschwerden häufig für ein allgemeines Unwohlsein bzw. für Depressionen.
Im Ramadan nehmen praktizierende Muslime während der Tagesstunden keine feste oder flüssige Nahrung zu sich. Nach Sonnenuntergang und kurz vor Sonnenaufgang ist jeweils eine Mahlzeit erlaubt. Das bedeutet, dass ein Großteil der Kalorien in der Nacht aufgenommen wird. "Das Problem von Diabetes-Patienten ist eigentlich das Essen, nicht das Fasten. Muslime verzehren während der Fastenzeit häufig viel mehr als außerhalb des Ramadan", berichtete Sultan.
Das Fasten im Ramadan gilt für alle gläubigen Moslems ab der Pubertät als Pflicht. Ausgenommen sind chronisch oder schwer Erkrankte sowie Schwangere, Stillende, Reisende und alte Menschen. Diabetes-Patienten fallen somit unter die Ausnahmeregelung.
Fasten für Diabetiker
Sultan erachtet das Fasten auch für Diabetiker als grundsätzlich möglich. Er verwies auf eine Studie, welche Patientengruppen definiert, für die das Ramadan-Fasten ungeeignet ist (al-Arouj M et al. Diabetes Care 2005 28:2305-11). Dazu zählen insbesondere Patienten mit Typ-1-Diabetes, mit schweren Hypoglykämien innerhalb der letzten drei Monate, mit aktuellen Erkrankungen sowie Dialyse-Patienten und Diabetiker, die einer schweren körperlichen Arbeit nachgehen.
Als geeignet gelten hingegen gut kontrollierte Patienten, die mit kurzwirksamen Gliniden, mit einer Diät und Metformin oder Pio-glitazonen behandelt werden. Besteht die Gefahr einer Hypoglykämie, kann der Ramadan für einen Tag unterbrochen werden, welcher anschließend nachholbar ist.
Der Diabetologe fragt seine Patienten bereits einen Monat vor dem Ramadan, ob sie planen zu fasten und bespricht dann mit ihnen die weitere Behandlung. Keine Therapieumstellung ist seiner Ansicht nach bei einer Behandlung mit Metformin oder Metformin plus Gliptin erforderlich. Gleiches gilt in der Regel für Liraglutide und Exenatide. Wird morgens nur wenig gegessen, lässt Sultan das Exenatid abends injizieren. Bei Sulfonylharnstoffen reduziert er die Dosis.
Quelle: Vortrag "Innere Medizin fachübergreifend – Diabetologie grenzenlos" in Unterschleißheim, veranstaltet von OmniaMed in Kooperation mit dem Berufsverband Deutscher Internisten e.V.