Für die Diagnose von Small Fiber Neuropathien (SFN) gibt es keinen Goldstandard. “Wir können sie nicht ausschließen, egal wie viele Tests wir kombinieren – wir können nur angeben, wie wahrscheinlich oder nicht wahrscheinlich eine SFN ist”, erklärte Dr. Maike Dohrn, Aachen. Da Schmerzen nicht gut objektivierbar sind, ist bei der Dia-gnose SFN oft die Anamnese wegweisend.
Doch welche Symptome führen tatsächlich auf die richtige Spur? “Schmerzen nehmen hier immer den ersten Platz ein”, erklärte Dohrn. Als weitere sensible Störungen geben die Patienten häufig Parästhesie, Überempfindlichkeit, Taubheit, Kältegefühl oder Krämpfe an [1].
In der Regel sind distale Bereiche wie Hände oder Füße betroffen, doch kann die Ausprägung sehr unterschiedlich sein: 38 Prozent der Befragten berichteten über Symptome am Oberkörper und 33 Prozent erwähnten sogar Schmerzen im Gesicht. Zusätzlich können variable autonome Beschwerden auftreten. Dazu zählen Schwindel, Kreislaufbeschwerden, Diarrhö oder Obstipation. “Lassen Sie Ihre Patienten schildern und ggf. sogar aufmalen, wo sie Schmerzen haben”, riet Dohrn. Darüber hinaus empfahl die Neurologin, den Fragebogen “painDETECT”, um neuropathische Schmerzen leichter zu erkennen.
Die klinisch-neurologische Untersuchung umfasst die Inspektion der Haut (Rötung, Ulzera, schlecht heilende Wunden), Einzelkraftprüfung und Reflextestung, um eine Large Fiber Polyneuropathie oder weitere Differenzialdiagnosen wie etwa eine Muskelerkrankung auszuschließen. Zudem führt Dohrn qualitative Sensibilitätstestungen z.B. auf Warm-Kalt-Empfinden, Spitz-Stumpf-Diskrimination, Berührungsempfinden oder Lagesinn durch. “Häufig schließen wir eine quantitativ-sensorische Testung an, bei der kalibrierte Reize auf ein definiertes Hautareal aufgebracht und von den Patienten bewertet werden”, berichtete Dohrn. Die erhobenen Schwellenwerte erlauben einen Rückschluss auf Dysfunktionen wie die Über- oder Unteraktivität verschiedener Fasern.
An welche (behandelbaren) Ursachen der SFN sollte man denken? Häufig liegen ein Diabetes mellitus und eine gestörte Glukosetoleranz zugrunde. In Frage kommen auch ein Vitamin-B12-Mangel, Funktionsstörungen von Niere oder Schilddrüse, Autoimmunerkrankungen wie Rheumatoide Arthritis oder Infektionserkrankungen wie HIV und Hepatitis C. Als seltene hereditäre Differenzialdia-gnose gilt Morbus Fabry. In 50 bis 70 Prozent der Fälle bleiben die Ursachen jedoch unklar.
Morbus Fabry: Mechanismen-orientierte Therapie
Vor dem Hintergrund, dass es sich bei M. Fabry um eine behandelbare Multisystemerkrankung handelt, ist es wichtig, das Frühsymptom “Schmerz” einordnen zu können. Wie Prof. Ralf Baron aus Kiel erklärte, lassen sich verschiedene “Schmerz-Phänotypen” unterscheiden: Einige Patienten geben einen ständigen Spontanschmerz an, andere leiden unter evozierten Schmerzen wie der mechanischen Allodynie oder Hyperalgesie.
Für neuropathische Schmerzen ungewöhnlich ist, dass auch akrale, durch Hitze und Fieber getriggerte Brennschmerzen auftreten. Zudem können noch extrem schmerzhafte, Temperatur-induzierte Schmerzkrisen vorkommen, die meist von den Händen oder Füßen ausgehen, sich auf den Körper ausbreiten und Stunden oder Tage anhalten können. “Wir denken inzwischen, dass bei M. Fabry nicht nur neuropathische Schmerzen, sondern vielleicht auch nozizeptive Komponenten eine Rolle spielen. Damit wäre M. Fabry ein klassisches “mixed pain syndrom”, berichtete Baron.
Da die verschiedenen Schmerzarten auf unterschiedlichen pathophysiologischen Entstehungsmechanismen beruhen, benötigen sie eine spezifische Therapie. So sind Antidepressiva bei degenerierten hemmenden Nervenbahnen wirksam, da sie diese über eine Hemmung der Noradrenalin-Wiederaufnahme stabilisieren. Dass dieser Mechanismus bei Patienten mit M. Fabry im Vordergrund steht, zeigt etwa der – über dünne Nervenfasern vermittelte – Verlust von Wärme- und Kälteempfinden.
Ein weiterer, über Capsaicin-Rezeptoren (“Hitze-Fühler”) vermittelter Mechanismus, könnte die ständigen Schmerzen oder auch die Hyperalgesie erklären. Die Verbindung zur Therapie wäre hier Capsaicin (als Pflaster), das zur Degeneration überaktiver Fasern führt [2]. Auch der Einsatz von Pregabalin und Opioiden ist laut Baron zielführend. Bei nozizeptiven Schmerzkomponenten können Metamizol, Paracetamol, Ibuprofen, Coxibe oder Opioide eingesetzt werden.
Kann Künstliche Intelligenz helfen, Fehldiagnosen zu vermeiden?
“Von den ersten Symptomen bis zur Diagnose vergehen bei M. Fabry ungefähr 15 Jahre”, berichtete Priv.-Doz. Dr. Michael A. Überall, Nürnberg. Das Ziel müsse sein, die derzeit häufigen Fehldiagnosen zu vermeiden und die richtige Diagnose sehr viel früher zu stellen. Daher wurde anhand von Routinedaten im PraxisRegister Schmerz (siehe Link-Tipp) eine phänotypische Risikoprofilierung entwickelt, die neben typischen schmerzrelevanten Faktoren auch andere Organsysteme berücksichtigt [3]. Mit diesem Algorithmus konnte man unter 257.015 Patienten 2.684 Schmerzpatienten mit starkem Verdacht auf M. Fabry und 314 Patienten mit einzelnen Verdachtsmomenten identifizieren.
“Auf der Grundlage dieser Analyse haben wir den neuen Algorithmus in das Routinesystem eingespeist, das im Hintergrund die Daten von Patienten auf einen möglicherweise vorliegenden M. Fabry screent”, erklärte Überall. Im positiven Fall geht eine entsprechende Warnmeldung an die behandelnden Ärzte und die Nutzer des Systems. Laut Überall werden monatlich 50 bis 60 Verdachtsmeldungen erstellt. Die Sensitivität und Spezifität des Systems wird derzeit evaluiert, um zukünftig ein auf künstlicher Intelligenz beruhendes Screening-Instrument zu entwickeln, das anhand der Routinedaten mögliche Verdachtsfälle auf M. Fabry anzeigt.
Literatur
- Dohrn MF et al. Pain 2022; doi: 10.1097/ j.pain.0000000000002580. Epub ahead of print
- Finnerup NB et al. Lancet Neurol 2015; 14(2): 162-173
- Überall MA, Horlemann J. Schmerzmedizin 2020; 36(5): 70-78
Quelle: Deutscher Schmerz- und Palliativtag 2022, Online-Seminar: “Damit die Diagnose nicht zum Abenteuer wird – neuropathische Schmerzen bei seltenen Erkrankungen”