© Privat Prof. Dr. Wolfgang Schütte ist Chefarzt der Klinik für Innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde und Ärztlicher Direktor im Martha-Maria-Krankenhaus Halle-Dölau.
Situationen wie diese halten Sie aber nicht für das Hauptproblem?
Genau, das ist relativ normal im Alltag. Es ist die Kunst, herauszufinden, wo es besonders notwendig ist, sich mehr Zeit zu nehmen und die individuelle Situation einer Patientin oder eines Patienten zu erkennen. Das gelingt sicherlich nicht immer.
Aber auch wenn man sich nicht um den ganzen soziokulturellen Hintergrund von jeder einzelnen Person kümmern kann, haben Hausärztinnen und Hausärzte im Gegensatz zu hochspezialisierten Fachrichtungen noch am ehesten die Möglichkeit, den ganzen Menschen im Blick zu behalten.
Eine große Verantwortung also. Gleichzeitig haben Hausärztinnen und Hausärzte selbst auch ein Privatleben mit verschiedensten Herausforderungen. Wie wichtig ist da das Thema Selbstfürsorge vor dem Hintergrund einer ganzheitlichen Behandlung?
Nur wenn es mir selbst gut geht, kann ich auch für andere da sein. Es ist wichtig, zu versuchen, auf einen persönlichen Ausgleich zu achten, die eigenen kulturellen und sportlichen Interessen nicht zu vernachlässigen und insgesamt ein möglichst ausgeglichenes Leben zu führen. Viele vernachlässigen diesen Aspekt und achten zu wenig auf sich selbst.
„Man kann den Körper nicht richtig heilen, ohne die Seele zu heilen.“
Wo wir gerade bei kulturellen Interessen sind: Eines ihrer Lieblingsbilder ist das Gemälde “Der Jungbrunnen” von Lukas Cranach. Passt das nicht auch ein bisschen zu unserem Thema?
Ja genau. In meinen Augen verdeutlicht dieses Bild ein Anspruchsproblem unserer Gesellschaft. Es kommt mir immer wieder ins Bewusstsein, wenn ich erlebe, wie sich manche wundern, wenn sie älter sind, eine Krankheit haben und danach nicht wieder richtig fit sind.
Sie können nicht annehmen, dass ihre Leistungsfähigkeit nicht mehr so ist, wie sie mal war. Viele glauben, so eine ärztliche Behandlung ist wie ein Jungbrunnen, wo man danach wieder topfit rauskommt.
Doch wir alle müssen lernen, bestimmte Krankheiten und Störungen im Organismus anzunehmen. Die Krankheit gehört zum Leben. Und die Seele des kranken Menschen spielt dabei eine wichtige Rolle.
Neben dem Anspruchsdenken von Patientinnen und Patienten, der Zeitknappheit im Praxisalltag und mangelnder Selbstfürsorge vieler ihrer Kolleginnen und Kollegen sehen sie aber noch weitere Faktoren, die bei der Behandlung stören, Körper und Seele optimal im Blick zu haben?
Richtig. Es gibt aus meiner Sicht drei ganz wichtige Themen, die eine Gefahr darstellen und uns daran hindern, die Individualität unserer Patientinnen und Patienten wirklich zu berücksichtigen: Ökonomie, Administration und “Vernaturwissenschaftlichung”.
Der Reihe nach: Inwiefern beeinflusst der ökonomische Druck in der Hausarztpraxis die Behandlung von Körper und Seele?
Dass eine ökonomische Betrachtung in der Medizin eine Rolle spielt, ist schon immer so. Ärzte müssen für ihre Leistung Geld verlangen, eine normale Situation. Eine Praxis muss bestimmte Scheinzahlen schaffen, sonst kann sie nicht überleben.
Allerdings muss man aufpassen, dass das Gleichgewicht beibehalten wird. Und da ist es immer wieder eine Gefahr, dass das Gleichgewicht sich in Richtung Ökonomie verändert und nicht so sehr in Richtung der individuellen Beziehung zwischen Behandelnden und Behandelten. Doch die Ökonomisierung halte ich nicht für den Hauptpunkt.
Das größere Problem ist für mich der Administrierungs- und Dokumentationswahn, diese ganze absurde Bürokratie! Es sind unheimlich viele Zertifizierungen vorgeschrieben und es gibt einen enorm großen Dokumentationsaufwand für Absurditäten. Und trotzdem gibt es immer noch Kolleginnen und Kollegen, die noch weitere Zertifizierungen und Dokumenta-tionen vorschlagen.
Vielleicht, weil Arbeitsabläufe immer komplexer werden?
In meinen Augen denken sie sich solche Vorgaben aus zwei Gründen aus: Aus einem Deutungswahn heraus, weil sie sich für unheimlich wichtig halten, oder aus Angst, weil sie auf Nummer sicher gehen wollen.
Überall wird mehr Dokumentation verlangt und es herrscht immer mehr Misstrauen in der Gesellschaft gegenüber den Leistungserbringern. Das führt dazu, dass man irre viel dokumentieren muss und sich nicht mehr so um die Patientinnen und Patienten kümmern kann, wie man es eigentlich will.
Wir sollten viele dieser Regeln auf den Prüfstand stellen. Da habe ich auch ganz klare Forderungen an die Fachgesellschaften, Zertifizierungskommissionen und an die Berufsverbände.
Welche Forderungen sind das?
Wir müssen diesen Administrierungswahn zurückschrauben. Meine Forderungen sind einmal an die Facharztverbände, genaustens zu prüfen, welcher Administrationsaufwand unbedingt sein muss und welcher nicht. Von den Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigung wünsche ich mir, den Dokumentationsaufwand zu reduzieren.
Und meine dritte Forderung geht an uns alle, uns gegen übertriebenen Dokumentationszwang zu wehren. Ich würde daher auch Hausärztinnen und Hausärzte dazu ermutigen, zu versuchen mit Zivilcourage dagegen vorzugehen und zu sagen: Dieser Dokumentationszwang ist absurd. Wenn wir gegen diese Bürokratisierung kämpfen, nützt es am Ende auch all denen, die wir behandeln.
Dokumentation und Administration sind doch aber sicher kein Selbstzweck?
An sich ist es ja eine gute Idee, etwas gewissenhaft zu dokumentieren, die Patientensicherheit zu verbessern, die Hygiene zu verbessern. Doch das Problem ist, wenn das alles zu einem irren Aufwand führt, dann verfehlt es doch das initial gut gemeinte Ziel.
Sie haben noch eine Dimension genannt, die aus Ihrer Sicht erschwert, Körper und Seele gleichermaßen gut zu behandeln – Sie nennen sie “Vernaturwissenschaftlichung”. Was hat es damit auf sich?
Der Ethiker Giovanni Maio von der Universität Freiburg hat diesen Begriff geprägt und ich finde das sehr treffend beobachtet. Er warnt davor, dass diese sogenannte Vernaturwissenschaftlichung dazu führt, dass wir uns nur auf Studien und Leitlinien beziehen.
Evidenzbasierte Medizin ist doch eigentlich ein Gütekriterium.
Es ist nur eine vermeintlich gute Sache, sodass man im Alltag gar nicht erkennt, wie gefährlich das ist.
Wir müssen den Menschen als Individuum sehen und da kann es sein, dass man bei der Behandlung auch mal abweichen muss von der Regel.“
Was spricht denn gegen die Berücksichtigung von Forschungsergebnissen bei der medizinischen Behandlung?
Auf dem ersten Blick nichts, doch wir sollten bedenken, dass in diesen Studien immer nur ein kleiner Teil der Gesamtpopulation vertreten ist. Zudem kommen ja nur die Gesunden und Fitten in die Studien.
Die Hausarztpraxen sollen die Erkenntnisse daraus aber, genauso wie die Krankenhäuser auch, auf alle anwenden. Darin sehe ich eine “Ent-Individualisierung” der einzelnen Menschen. Ich halte das zuweilen für gefährlich.
Wer bei der Behandlung abweicht und den Einzelnen doch annimmt, läuft Gefahr, dass einem das vorgeworfen werden kann. Aus Angst vor negativen Konsequenzen machen es dann doch viele so, wie es in der Leitlinie oder in der Studie steht. Das halte ich für eine ganz große Gefahr.
Sie sagen also, dass es vor allem strukturelle Bedingungen sind, die der guten kombinierten Behandlung von Körper und Seele im Wege stehen. Aber ganz ohne diese Rahmenbedingungen geht es ja auch nicht.
Natürlich nicht. Und all diese Dinge sind ja auch initial nicht schlecht. Dennoch stehen sie dem Verhältnis von Arzt und Patient im Wege und lassen letztendlich die Seele außer Acht. Doch diese stärker in den Fokus zu rücken, halte ich dringend für angebracht.