Wie viel ist zu viel? Wie wenig ist zu wenig? Mit den schwierigen Fragen der Über-, Unter- und Fehlversorgung hat sich Prof. Ferdinand Gerlach bei der Ringvorlesung "Was hilft heilen?" an der Frankfurter Goethe-Universität im Juli auseinandergesetzt. Am Ende blieb die Erkenntnis: Jeder Arzt kann und muss auch selbst daran arbeiten, seinen Patienten so viel wie möglich und so wenig wie nötig an Diagnostik und Therapie zu bieten. Wie schwierig diese Gratwanderung ist, wie viele Faktoren zu viel, zu wenig oder die falsche Medizin beeinflussen, wie oft und stark es in diesen Fragen "menschelt", zeigte der Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin in Frankfurt mit zahlreichen praktischen Beispielen, Studienerkenntnissen und Statistiken.
Als Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) ist Gerlach täglich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Thematik befasst und gab seinen Zuhörern zahlreiche Tipps, wie sie sich für Über-, Unter- und Fehlversorgung im klinischen und ambulanten Alltag sensibilisieren und ihr konstruktiv begegnen können.
Das Problem ist nicht aus der akademischen Luft gegriffen und vielen Ärzten selbst durchaus bewusst. Nach einer im April im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichten Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin unter Internisten schätzten 44,5 Prozent, dass überflüssige Leistungen in ihrem Fachgebiet mehrmals pro Woche vorkommen. 25,9 Prozent gingen davon aus, dass bis zu zehn Mal am Tag zu viel Medizin geboten wird. Problem erkannt, Gefahr gebannt?
So einfach ist es nicht. Obwohl die befragten Internisten als Folge fast alle steigende Kosten im Gesundheitssystem und mehr als zwei Drittel eine Verunsicherung der Patienten konstatierten, trieben sie an erster Stelle die Sorge vor Behandlungsfehlern, gefolgt von Druck durch Patienten und die Erzielung zusätzlicher Erlöse zum Mehr an Medizin. Es wird was gemacht, damit der Patient zufriedener und schneller wieder draußen ist: Bei vollem Wartezimmer ein legitimer Wunsch? Oder beißt sich die Katze in den Schwanz?
Top, aber teuer
Dass das deutsche Gesundheitssystem zwar in vielen Bereichen top, aber eben auch teuer ist und in den kommenden Jahren angesichts des medizinischen Fortschritts und einem erwartbaren Plus an Diagnostik und Intervention wohl kaum günstiger wird: keine Frage. Die Deutschen gehen oft und gerne zum Arzt, die Belegdauer im Krankenhaus sinkt zwar, die Zahl der Eingriffe steigt aber. Wie also Geld gerecht verteilen und den Patienten gut versorgen?
Eine angemessene Versorgung resultiere aus der Trias der (ärztlichen) Beurteilung, der besten verfügbaren externen Evidenz und – bisweilen zu wenig beachtet – der Patientenpräferenz, sagt Gerlach. De facto hängt aber etwa die Häufigkeit einer Operation durchaus von Wohnort und dort verfügbarer Facharztdichte ab, wie er am Beispiel der Tonsillektomie und Appendektomie bei Kindern darstellte. "In Ingolstadt ist die Wahrscheinlichkeit, die Tonsillen zu behalten groß, dafür sind die Kinder leichter ihren Appendix los." Das Plädoyer für mehr Generalisten – Allgemeinmediziner – und weniger Spezialisten war unüberhörbar. Doch nur um die zehn Prozent eines Absolventenjahrgangs strebe in die Allgemeinmedizin, zeigen aktuelle Zahlen. Das ist indes eine andere Baustelle.
Gründe für eine Über-, Unter- oder Fehlversorgung nannte Gerlach viele, allen voran falsche Anreize, falsche Angebotskapazitäten, eine sektorale Trennung und mangelhafte Koordination. Ebenso spielten veraltetes Wissen, Technikgläubigkeit, nicht hinterfragte Routinen, fehlende oder mangelnde Evidenz sowie Zeitmangel und Defensivmedizin eine Rolle. Last, but not least: Nicht selten werde der Patient gar nicht gefragt, was er eigentlich wolle und an der Therapieentscheidung nicht beteiligt.
Um einer Über-, Unter- oder Fehlversorgung zu begegnen, gehöre es zum Beispiel dazu, mit den Patienten über das Für und Wider von Früherkennungsangeboten wie dem Mammographie-Screening zu sprechen und zu eruieren, ob der Patient Medikamente gemäß Verordnung nimmt. Dass das Screening zwar die eine Frau vor dem Tod bewahrt, die andere aber in die Überdiagnostik und -therapie treibt, dass Patienten Medikamente zu hoch oder niedrig dosiert, in anderen Intervallen oder einfach gar nicht nehmen: nur einige Überlegungen, die allein in diesen zwei Bereichen der Über-, Unter- und Fehlversorgung Tür und Tor öffnen.
Erster Schritt: mit Patienten sprechen
Ein erster Schritt auf dem Weg zu besserer Versorgung also: mehr und vor allem das Richtige mit den Patienten sprechen. Das kostet auf den ersten Blick mehr Zeit, könnte sich aber langfristig auszahlen. Angemessene Versorgung erfordert laut Gerlach aber noch mehr. Unabhängige Informationen besorgen, sich mit den Grundlagen evidenzbasierter Medizin vertraut machen, Tendenzen zur Medikalisierung und Kommerzialisierung der Medizin begegnen, Ressourcen effektiv und ökonomisch einsetzen gehöre ebenso dazu wie das Aushalten von Unsicherheit, die Anerkennung des Faktors Zeit bei der Heilung sowie die Verabschiedung vom Mythos, dass eine frühe automatisch eine gute Diagnosestellung sei. "Ein Allgemeinmediziner ist auf den ganzen Menschen spezialisiert und schützt ihn vor zu viel und falscher Medizin", sagte Gerlach und empfahl, salutogenetisch zu denken: "Was hält den Patienten gesund?"
Genauso wichtig sei es, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, ausgewogene Ernährung und Bewegung zu empfehlen. Bei allem gutem Willen gelte es indes nicht, den Menschen aus dem Blick zu verlieren. "Sprechen Sie mit Ihren Patienten über deren Erwartungen und Präferenzen! Ermöglichen und unterstützen Sie informierte Entscheidungen!" Und wenn der Patient schon Dr. Internet zu Rate ziehe, dann möge er wenigstens unabhängige Informationsseiten wie gesundheitsinformation.de oder patienten-information.de konsultieren. Auf dass er mit dem Münchner Dichter Eugen Roth feststellen könne:
Was bringt den Doktor um sein Brot? a) die Gesundheit, b) der Tod. Drum hält der Arzt, auf daß er lebe, uns zwischen beiden in der Schwebe.
Gründe für eine Über-, Unter- oder Fehlversorgung
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falsche Anreize
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falsche Angebotskapazitäten
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eine sektorale Trennung
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mangelhafte Koordination
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veraltetes Wissen
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nicht hinterfragte Routinen
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Technikgläubigkeit
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fehlende oder mangelnde Evidenz
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Zeitmangel und Defensivmedizin
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Patient wird nicht an der Therapieentscheidung beteiligt
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