Werden bei Patienten mit Multimorbidität mehrere Leitlinien gleichzeitig befolgt, steigt die Zahl der verordneten Arzneimittel schnell auf fünf oder mehr (= Multimedikation). Damit wächst das Risiko für Neben- und Wechselwirkungen. Zudem kann ein Wirkstoff, der für eine der Erkrankungen des Patienten indiziert ist, wegen eines gleichzeitig bestehenden anderen Leidens kontraindiziert sein. Daher sollten regelmäßig alle Medikamente, die ein Patient einnimmt, einem Check unterzogen werden. Die 2021 aktualisierte „Hausärztliche Leitlinie Multimedikation“ erklärt, wie man entbehrliche oder schädliche Medikamente aufspürt und absetzt (= Deprescribing).
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AUTOR:
Dr. med. Ulrich Scharmer
Gültig bis 1. Juni 2024
VNR: 2760909012738550015
Verlängerung bis 1. Juni 2025
VNR: 2760909013534100013
Die Bayerische Landesärztekammer hat diesen Beitrag in der Kategorie D zur zertifizierten Fortbildung freigegeben.
Naturgemäß sind von Multimedikation vor allem ältere Patienten mit mehreren chronischen Erkrankungen betroffen. Nach den Zahlen des Barmer Arzneimittelreports 2018 erhalten fast 90 % aller Patienten über 80 Jahre mehr als fünf Wirkstoffe. Da etwa 6,5 % aller notfallmäßigen Krankenhausaufnahmen auf UAWs zurückgehen, ist es wichtig, unnötige Medikamente bzw. potenziell gefährliche Interaktionen zu identifizieren und problematische Wirkstoffe wegzulassen – ohne dabei Unterversorgung zu riskieren.
Eine bekannte Schwachstelle ist das Entlassmanagement nach einem stationären Aufenthalt. Laut Barmer Gesundheitsreport 2020 sind weniger als 20 % aller Hausärztinnen und Hausärzte mit der Informationsweitergabe durch die Krankenhäuser zufrieden. Nach einem stationären Aufenthalt steigt der Anteil von Patienten mit Multimedikation. Über 40 % der Patienten erhalten im Krankenhaus mindestens eine zusätzliche Verordnung, in jedem zweiten Fall davon wird mehr als ein neuer Wirkstoff angesetzt. Im Sinne der Arzneimitteltherapiesicherheit besonders bedenklich ist, dass dabei der Anteil von Patienten steigt, die ein für ihr Alter potenziell inadäquates Arzneimittel erhalten.
Nach einer stationären Behandlung sollte daher immer ein Medikationscheck („Brown-Bag-Review“) erfolgen. Weitere Anlässe für eine Bestandsaufnahme sind Stürze sowie neu aufgetretene Symptome bzw. Erkrankungen. Ein erstmals manifest gewordenes Symptom könnte die UAW eines Medikaments sein. Wird eine UAW nicht als solche erkannt, sondern mit einem weiteren Medikament bekämpft, liegt eine Verordnungskaskade vor.
Unabhängig von Anlässen sollte bei Patienten mit Multimorbidität/Multimedikation mindestens einmal jährlich die gesamte Medikation einschließlich selbst gekaufter Mittel erfasst und bewertet werden. Für jede Substanz ist zu klären, ob die Indikation noch besteht und die Dosierung angemessen ist, insbesondere mit Blick auf die Nierenfunktion. Ist eine weitere chronische Erkrankung hinzugekommen, muss geprüft werden, ob eines der bisher verordneten Medikamente jetzt kontraindiziert oder zumindest problematisch ist. Ferner sind die Wünsche der Patienten zu erfragen: Hat die Verbesserung der Prognose (ggf. unter Inkaufnahme von UAWs) oberste Priorität oder ist die Lebensqualität (Linderung von z. B. Schmerzen oder Atemnot, Erhalt der Selbstständigkeit) wichtiger? Zur Medikationsprüfung gehört auch ein Check auf Interaktionen. In der FORTA-Liste kann man für einzelne Indikationen nachschlagen, wie gut ein Wirkstoff im Alter geeignet ist, und ggf. nach Alternativen suchen.
Wenn ein Medikament aus ärztlicher Sicht abgesetzt werden soll, muss man dies mit dem Patienten besprechen und mit ihm gemeinsam darüber entscheiden. Es sind regelmäßige Kontrollen zu vereinbaren, um mögliche Absetzreaktionen oder das Wiederauftreten von Symptomen rechtzeitig zu erkennen. Den Patienten sollte man erklären, dass sie den Absetzversuch jederzeit beenden können. Bei einigen Wirkstoffen, z. B. Betablockern, ist zu beachten, dass die Dosis langsam verringert werden muss.
Hausärztliche Leitlinie Multimedikation: Hilfe beim Deprescribing
Die „Hausärztliche Leitlinie Multimedikation“ (Leitliniengruppe Hessen, DEGAM, 2021) spricht von Multimedikation, wenn Patienten dauerhaft, d. h. länger als 90 Tage, fünf oder mehr Medikamente erhalten. Multimedikation (synonym: Polypharmazie) ist eng mit Multimorbidität verknüpft. Multimorbidität wird in der DEGAM-LL als das Vorliegen von drei oder mehr chronischen Erkrankungen definiert. Behandelt man alle Erkrankungen multimorbider Patienten leitliniengerecht, kommt man bei simpler Addition der Leitlinien schnell auf fünf oder mehr Arzneimittel (Boyd, 2005). Multimedikation ist nicht zwangsläufig schädlich: Es kommt nicht darauf an, wie viele Medikamente ein Patient erhält, sondern dass es die richtigen sind. Probleme können entstehen, wenn z. B. Interaktionen auftreten oder UAWs eines Medikaments nicht als solche erkannt werden und gegen die neu aufgetretenen Beschwerden ein weiteres Medikament verordnet wird (Verordnungskaskade). Beispiel: Kalziumantagonist → Knöchelödeme → Diuretikum → Anstieg der Harnsäure→ Urikostatikum.
Ferner kann die Leitlinie für eine Erkrankung des Patienten einen Wirkstoff empfehlen, der wegen einer anderen Erkrankungen des Patienten kontraindiziert ist.
Nicht selten werden Medikamente, für die nur eine temporäre Indikation bestand, ungeprüft auf Dauer weiterverschrieben. Beispiel: ein PPI, der ursprünglich als Magenschutz während der befristeten Einnahme eines NSAR gedacht war. Liegt Multimedikation vor, sollte daher regelmäßig sowie bei bestimmten Anlässen (z. B. nach Sturzereignis, Krankenhausaufenthalt) geprüft werden, ob alle Medikamente (noch) indiziert und nützlich sind. Ziel ist dabei nicht nur das Einsparen von Medikamenten, sondern auch, durch Weglassen entbehrlicher oder gar ungünstiger Wirkstoffe das Behandlungsergebnis zu optimieren. Dazu ist es nötig, unangemessene Medikationen zu erkennen und zu beenden. Dieses Absetzen (Deprescribing) ist ein strukturierter Prozess und folgt prinzipiell denselben Regeln wie das Verordnen von Medikamenten.
Aber: Trotz Multimedikation kann Unterversorgung bestehen (DEGAM, 2018), d. h. therapiebedürftige Erkrankungen/Symptome werden nicht behandelt (z. B. kein Laxans bei Dauermedikation mit einem stark wirksamen Opioid).
Multimedikation – im Alter eher Regel als Ausnahme
Laut Barmer Arzneimittelreport 2018 (Grandt, 2018) hatten etwa 45 % aller Versicherten dieser Krankenkasse drei oder mehr chronische Erkrankungen (= in mindestens drei Quartalen dokumentiert), bei etwa 33 % bestanden sogar fünf oder mehr chronische Erkrankungen. Der Anteil von Versicherten mit drei oder mehr chronischen Erkrankungen steigt gemäß den Zahlen des Reports mit dem Alter: Bis 64 Jahre beträgt er 31,2 %, zwischen 65 und 69 Jahren 78,8 % und ab 80 Jahren 87,3 %. 13 % aller bei der Barmer Versicherten wurden über einen Zeitraum von > 90 Tagen mit mindestens fünf Arzneimitteln behandelt. Multimedikation wurde bei 18,9 % der Patienten mit drei chronischen Erkrankungen beobachtet, bei fünf und mehr chronischen Erkrankungen betrug der Anteil über 58 %. Schließlich wurde ermittelt, dass die Verordnungen bei 65,6 % der Versicherten mit Multimedikation von drei oder mehr Ärztinnen und Ärzten stammten, nur 12 % erhielten alle ihre Verordnungen aus einer Hand.
Medikation als zyklischer Prozess
Schon die Vorgängerversion der Neuauflage der LL Multimedikation stellte die Verordnung und das Deprescribing von Medikamenten als zyklische Prozesse dar, die wiederholt zu durchlaufen sind. Die neue Fassung der LL unterscheidet dabei sechs Schritte (Abbildung 1):
Schritte 1 bis 3 = Medikationsüberprüfung („Review“): (1) Bestandsaufnahme und Bewertung, (2) Abstimmung mit dem Patienten, (3) Verordnungsvorschlag und Kommunikation (entsprechend beim Deprescribing der Vorschlag, welche(s) Medikament(e) weggelassen werden kann/ können).
Schritte 4 bis 6: (4) Arzneimittelabgabe (bzw. beim Deprescribing die Anleitung, was der Patient beim Absetzen eines Medikaments beachten soll), (5) Arzneimittelanwendung/ Selbstmanagement, (6) Monitoring/ Follow-up.
Für das Deprescribing geht diesem Prozess als Schritt 0 das Erfassen der Zielgruppe voraus.