Auf den ersten Blick ist es ein gewöhnlicher Nachmittag in der Praxis von Dr. Fabian Holbe: Patientinnen und Patienten kommen und gehen, sie stellen dem 42-Jährigen ihre Fragen. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, dass dieser Mittwoch – nach dem Ende seiner eigentlichen Sprechstunde – alles andere als gewöhnlich ist.
Denn die Besucher sind nicht nur allesamt hochbetagt, sie kommen auch alle mit dem gleichen Anliegen: Dr. Fabian Holbe impft sie gegen das Coronavirus – in seiner Hausarztpraxis im Landkreis Nordwestmecklenburg.
Holbe ist einer von zehn Ärzten, die bundesweit als erstes in der eigenen Praxis gegen das Coronavirus geimpft haben – zu einer Zeit, als die Impfungen in anderen Regionen Deutschlands gerade einmal in den Impfzentren angelaufen waren.
Initiiert hatte er das Modellprojekt selbst: Mit Hilfe des regionalen Gesundheitsamtes spann er ein Netz von Hausarztpraxen, die im Kreis als “verlängerter Arm der Impfzentren” fungieren; die Terminvergabe übernimmt die zentrale Stelle des Landes. “Ich hatte Glück, dass ich bei unserer Landrätin gleich auf offene Ohren gestoßen bin”, sagt Holbe. Anfang Februar hatten er und seine Kollegen so schon 3.500 Menschen geimpft.
“Wir Hausärzte können das”
Zur gleichen Zeit kündigte Landesgesundheitsminister Harry Glawe (CDU) an, das Modellprojekt landesweit auszurollen. 1.000 Praxen sollten dazu eingebunden werden. Für Holbe ist das eine logische Konsequenz. “Wir haben gezeigt: Wir Hausärzte können das”, sagt er. “Wir sind doch am nächsten am Patienten – und genau darum geht es gerade in dieser ersten Stufe der Impfungen: Wir müssen die Zielgruppen erreichen.”
Dass Hausärztinnen und Hausärzte dafür schon früh in den Startlöchern standen, weiß Ulrich Weigeldt, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes, aus dem engen Kontakt zu Praxen von Nord bis Süd. Dabei ist es auch in seinen Augen höchste Zeit, erfolgreiche Vorreiter wie Holbe in die Fläche zu bringen: “Dort, wo Hausärztinnen und Hausärzte aktiv eingebunden sind, sind in der Regel auch die Ergebnisse besser”, bilanziert er.
Sowohl Politik als auch Selbstverwaltung scheinen das ebenso zu sehen. Bei einem Besuch von Holbes Modellprojekt unterstrich etwa Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD): “Im ländlichen Raum müssen wir die Menschen über die Hausärzte erreichen.” Sie seien Knotenpunkte der medizinischen Versorgung, nah an den Menschen und genössen großes Vertrauen.
Auch viele Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) betonen gegenüber “Der Hausarzt”, dass die Impfungen so schnell wie möglich in die Praxen kommen sollten.
Und doch: Bei Redaktionsschluss war die Impfung in den Hausarztpraxen erst ein Licht am Horizont, nicht jedoch flächendeckende Realität. Auf organisatorische Fragen von Bestellungen bis zur Planungssicherheit für Ärzte fehlten der Politik allzu oft Antworten.
Das Problem seien die noch immer fehlenden Impfstoffe, so KVen und Ministerien.
Impfzentren sind “überholt”
600 Kilometer weiter südlich von Holbes Praxis, in Mittelhessen, hätte sich auch Renate F.* eine Impfung in der Praxis ihres vertrauten Hausarztes im Nachbarort gewünscht. Stattdessen musste die 91-Jährige für ihre erste Impfdosis Ende Januar 60 Kilometer Fahrt auf sich nehmen, begleitet von ihrer Enkelin und deren Mann.
“Solch ein Glück hat nicht jeder”, sagt sie, während sie sich mit ihrem “Laufzettel” (s. Bild oben) durch die erste Etage eines stillgelegten Möbelhauses begibt. Bauzäune trennen die Bereiche voneinander, einfache Klappstühle zeigen, wie voll es werden könnte – wenn nur Impfstoff zur Verfügung stünde.
Für Hausärzte-Chef Weigeldt war das Setzen auf die Impfzentren zu diesem Zeitpunkt schon “überholt”. Denn: So wie sich der Wissensstand während der gesamten Pandemie immer wieder erneuerte, haben sich auch mit Blick auf die Impfungen wichtige Voraussetzungen verändert.
“Wir wissen inzwischen nicht nur, dass die Impfzentren für einige, insbesondere ältere Menschen mit eingeschränkter Mobilität einfach viel zu weit weg sind”, so Weigeldt. “Wir wissen auch, dass der logistische und administrative Aufwand, der in diesen Zentren betrieben wird, immens ist.” Beides musste Renate F. selbst erfahren.
Alle drei Vakzinen gut händelbar
Darüber hinaus seien alle drei eingesetzten Impfstoffe – Biontech/Pfizer, Moderna und Astrazeneca – anders als zunächst angenommen, für Hausärzte “absolut händelbar und können sehr gut in Hausarztpraxen verimpft werden”, unterstreicht Weigeldt.
Mitte Januar hatte Biontech bekanntgegeben, dass sein Impfstoff Comirnaty auch als fertige Dosis in der Spritze bis zu sechs Stunden transportiert werden könne (www.hausarzt.link/c132a).
Als erstes Land reagiert hat darauf Rheinland-Pfalz: Ab 1. März sollen Hausärzte, zu Beginn aus vier Modellpraxen, hier auch Bettlägerige in den eigenen vier Wänden impfen – angestoßen durch den Hausärzteverband Rheinland-Pfalz.
Das Ministerium zu überzeugen, dass der Kosten- und Personalaufwand bei einer Impfung während des Hausbesuchs um ein Vielfaches geringer ist als die Organisation mobiler Impfteams, die mit dem häuslichen Setting letztlich nicht vertraut sind, sei nicht einfach gewesen, sagt Landesverbandschefin Dr. Barbara Römer. Doch es habe sich gelohnt: “Die Impfung wird sehnsüchtig erwartet.”
Unnötige Bürokratieschleifen
Doch nicht nur mit Blick auf Anfahrt und Handling ist es Zeit umzudenken. Das erkennt sogar Renate F.: Am “Check-out” des Zentrums staunt sie, als sie lediglich ein Blatt Papier erhält, auf dem die Impfung nachgewiesen ist – obwohl sie extra ihren Impfausweis mitgebracht hatte. “Legen Sie dies bei Gelegenheit bitte Ihrem Hausarzt vor. Er wird die Impfung dann übertragen”, erklärt der Mitarbeiter.
Es ist eine Bürokratie- und Dokumentationsschleife, die bezeichnend ist. Und die der Deutsche Hausärzteverband deutlich kritisiert: Praxen dürften keine Regress- oder Haftungsrisiken drohen, und für Patienten müssten verständliche Informationsmaterialien vorhanden sein, heißt es in einem aktuellen Positionspapier (“Der Hausarzt” 3/21 oder www.hausarzt.link/Yz9DY).
Ein weiteres Beispiel, das diese Notwendigkeit des Bürokratieabbaus illustriert, ist die zweifache Aufklärung: Sowohl vor der Erst- als auch vor der Zweitimpfung mussten Patienten zuletzt die umfangreiche Aufklärung unterschreiben. Zahlreiche Stimmen aus der Praxis fordern, hier nachzujustieren – analog zu anderen Impfungen, in die mit einer Unterschrift eingewilligt wird.
Hohes Vertrauen in Hausärzte
Nicht zuletzt diese “anderen Impfungen” – allein bei der Grippeimpfung waren es in diesem Winter mehr als 20 Millionen Dosen – sind es, die Patienten ihren Hausärzten vertrauen lassen.
Dr. Fabian Holbe spürt das in diesen Tagen genau. Ihm stehen nicht nur Patientenfragen, sondern auch berührende Dankbarkeit gegenüber – darüber, dass weite Wege gespart werden, aber auch, dass die Fragen mit einem bekannten Gegenüber besprochen werden können. “Mitunter weinen Patienten, weil sie so glücklich sind”, erzählt Holbe. Keine Frage: Diese Tage sind alles andere als “gewöhnlicher” Praxisbetrieb.
*Vollständiger Name liegt der Redaktion vor.