Berlin. Die S3-Leitlinien zu alkoholbezogenen Störungen und Tabakabhängigkeit liegen seit Kurzem in aktualisierter Fassung vor, zudem ist eine neue S3-Leitlinie zu medikamentenbezogenen Störungen erschienen.
Den herausgebenden Fachgesellschaften zufolge nehmen Suchterkrankte Therapie- und Präventionsangebote noch viel zu wenig in Anspruch. So gibt es bei den alkoholbezogenen Störungen laut federführendem Leitlinienautor Prof. Falk Kiefer zwar hochwirksame therapeutische Interventionen, die Therapieangebote erreichen allerdings zu wenige Betroffene: Nur circa 10 Prozent der alkoholabhängigen Menschen in Deutschland würden vom Suchthilfesystem versorgt.
Alkoholsucht: Fokus auf Früherkennung
Hier bestehe der größte Verbesserungsbedarf darin, Früherkennung und Frühintervention sowie gestufte Interventionen flächendeckend zu etablieren und auszubauen. Die Leitlinie belege klar, dass bei allen psychischen Störungen und bei typischen körperlichen Erkrankungen ein Screening in Bezug auf den Alkoholkonsum erfolgen und Behandlungsangebote vermittelt werden müssen, um die Krankheitslast in der Bevölkerung relevant zu mindern. Derzeit würden Betroffene beim Arzt oft nicht nach dem Alkoholkonsum gefragt.
Liegt ein schädlicher Alkoholgebrauch vor, sollten die vorhandenen etablierten und evidenzbasierten Interventionen am individuellen Bedarf adaptiert eingesetzt werden: von der Trinkmengenreduktion zur lebenslangen Abstinenz, von der offenen Selbsthilfe bis zur vollstationären psychotherapeutischen Rehabilitation.
Tabak: Absolute Abstinenz als Ziel
Der Verantwortliche für die Leitlinie zur Tabakabhängigkeit, Prof. Anil Batra, betonte anlässlich deren Veröffentlichung, dass bei Rauchern eine absolute Abstinenz anzustreben sei – nur sie sei bei der Vermeidung gesundheitlicher Risiken zielführend. Eine “Harm Reduction” im Sinne eines reduzierten Konsums könne nur in Einzelfällen eine Alternative sein. Das aktuelle Zigarettenwerbeverbot sei dahingehend die richtige Entscheidung und ein starkes Signal.
Wichtig ist laut Batra, dass die Diagnose der Tabakabhängigkeit den gleichen Kriterien folgt wie bei anderen Abhängigkeitserkrankungen. Wesentlich sei zudem Beratung – das allererste Ziel sei, Aufhörmotivation herzustellen. Telefonische Angebote und internetbasierte Selbsthilfeprogramme hätten einen hohen Stellenwert.
Kurzberatung und niederschwellige Unterstützung könnten manchmal hilfreich sein, seien es aber nicht in allen Fällen. Daher seien intensivere Behandlungsformen oder Unterstützung in Form von verhaltenstherapeutische Gruppen oder Einzelsitzungen notwendig. Auch Hypnotherapie oder achtsamkeitsbasierte Ansätze könnten nun zur Unterstützung des Tabakstopps angeboten werden. Empfehlenswert sei immer eine Kombinationsbehandlung aus Psychotherapie und Medikamenten.
Spezielle Zielgruppen wie Menschen mit psychischen Erkrankungen verdienen Batra zufolge besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung – hier gelte es, die Strategien anzupassen und die höhere Wertigkeit einzelner Komponenten zu bedenken. Die Leitlinie geht daher auf die Besonderheiten der Tabakentwöhnung bei Kindern und Jugendlichen, Frauen, Schwangeren, älteren Menschen und körperlich sowie psychisch Erkrankten ein.
Medikamente: Fließender Übergang zur Sucht
Es gibt viele Arzneimittel mit Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial. Laut Prof. Ursula Havelmann-Reinecke – verantwortlich für die Leitlinie zur Medikamentenabhängigkeit – zählen hier die Gruppen der Benzodiazepine und der Opioide zu den relevantesten. Weitere relevante Stoffgruppen seien unter anderem die Gabapentinoide, Cannabinoidmedikamente und Stimulanzien mit nachgewiesenem Risiko für schädlichen Gebrauch und/oder Abhängigkeit sowie die nicht-opioiden Schmerzmittel mit hohem Potenzial für Missbrauch. Diese Medikamente finden in der Leitlinie daher besondere Berücksichtigung.
Havelmann-Reinecke betonte, dass für den Einsatz eines Medikaments eine klare Indikation gegeben sein muss. Ärzte müssten immer wieder überprüfen, ob das Medikament beziehungsweise die Dosis noch notwendig seien. Zudem sollten sie die psychischen und sozialen Konstellationen des Patienten in die Therapie einbeziehen.
Mehr als bei anderen Suchtmitteln bestehe bei Medikamenten ein fließender Übergang zwischen bestimmungsgemäßem Gebrauch, Fehlgebrauch, missbräuchlichem, schädlichem und abhängigem Gebrauch – dies erschwere die Diagnostik und Therapie.
Die Leitlinien sind auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zu finden. Herausgebende Fachgesellschaften sind die DGPPN und die Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht). Daneben waren noch viele weitere Fachgesellschaften an der Erstellung der Leitlinien beteiligt.
Quelle: DGPPN-Pressekonferenz am 20.01.2021