Manchmal beschweren sich Kinder bei Dr. Alexander Miller, wenn er sie ins Sprechzimmer ruft. Eigentlich hatten sie noch im Wartezimmer spielen wollen. Wenn Patienten lieber länger warten würden, hat man als Arzt mit der Organisation seiner Praxis wohl ziemlich viel richtig gemacht. Natürlich gibt es auch in der Familienpraxis im bayerischen Karlstein am Main – hier arbeiten mehrere Allgemein- und Kinderärzte zusammen – Tage, an denen die Patienten länger warten müssen. Doch die Regel sind sie nicht. Die Praxis wird als Bestellpraxis geführt; Notfälle und Akutpatienten werden zwischen Terminpatienten geschoben. In Zeiten, in denen mehr Infekte zu erwarten sind, wird weniger engmaschig terminiert.
Monika Buchalik aus dem hessischen Maintal bietet hingegen Akutpatienten täglich von acht bis elf Uhr eine offene Sprechstunde; im Anschluss bestellt sie Patienten für planbare Untersuchungen ein. In den Sommermonaten endet die Akutsprechstunde um zehn Uhr, da weniger Patienten mit Infekten kommen. “Diese Planung hat sich bewährt”, sagt die Allgemeinmedizinerin. Sie stehe für zuverlässige Erreichbarkeit und fördere das Arzt-Patienten-Vertrauensverhältnis. “Wir sind immer zeitnaher Ansprechpartner. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass im gefühlt akuten Fall unsere Patienten ihre Hausärztin zeitnah erreichen können müssen.”
Stressfaktor versus Sicherheit
Zwei Modelle, beide funktionieren. “Das beste System ist das, mit dem der Arzt sich wohlfühlt”, sagt die selbstständige Praxisberaterin Julia Riss aus Dreieich. Die gelernte MFA und PTA berät seit 14 Jahren unter anderem Praxen in Organisationsfragen und seit einem Jahr auch zum Datenschutz.
Riss erinnert sich an einen Arzt, der seine praxisinternen Abläufe umstrukturieren ließ, auch weil Patienten sich über die langen Wartezeiten beschwerten. Nach der Neuorganisation waren die Konsultationen so gut getaktet, dass sich nur noch wenige Patienten gleichzeitig in der Praxis aufhielten. Obwohl Scheinzahl und Ertrag gleich blieben, “fühlte der Arzt sich nicht wohl, denn er war ein volles Wartezimmer gewohnt”. Also setzte Riss auf eine kombinierte Bestellpraxis mit offener Sprechstunde, ähnlich wie Hausärztin Buchalik es betreibt. Weil die Angestellten das neue System Patienten gegenüber offen kommunizierten, sank die Zahl der Beschwerden über zu lange Wartezeiten deutlich.
Im Wartezimmer steckt viel Psychologie. Ist es nicht rappelvoll, fühlt der eine sich unwohl, andere sehen es locker. “Immer nur ein übervolles Wartezimmer stresst, weil niemand in der Praxis sich wünscht, dass Patienten lange warten müssen”, befindet Buchalik, die Vize-Vorsitzende des hessischen Hausärzteverbands ist. “Über ein leereres Wartezimmer zum Beispiel in den Sommermonaten freue ich mich nach fast 30-jähriger Tätigkeit, da ich weiß, dass mein Einkommen dennoch stimmt. Schließlich betreue ich zwei Drittel meiner Patienten mittels Hausarztzentrierter Versorgung, bei der es Versorgungspauschalen gibt.”
Bei hohem Patientenaufkommen hält sie – wie viele Kollegen und wie auch Praxismanagerin Julia Riss – Wartezeiten bis zu 30 Minuten für zumutbar. “Leider kommt es dennoch an manchen Tagen zu einer längeren Wartezeit, für die meine Patienten aber Verständnis haben, denn sie bekommen ja mit, wie sehr wir uns täglich um sie bemühen”, sagt Buchalik. In der hausärztlichen Versorgung sei nun einmal nicht alles planbar.
Klare Aufgaben, stimmiges Team
Klare Zuständigkeiten und Aufgabenverteilungen sind laut Julia Riss wichtige Bedingungen, um den unwägbaren Moment klug aufzufangen.
An erster Stelle für eine funktionierende Praxisorganisation nennt sie eine weitere Voraussetzung: ein harmonisches Team, das eine offene Fehlerkultur pflegt. Das sieht auch Allgemeinmediziner Dr. Jochen Franz aus Aschaffenburg so. Er führt ebenfalls eine Terminpraxis und kalkuliert pro Tag etwa 1,5 Stunden für Notfallpatienten ein. Wenn alle Mitarbeiter harmonierten und ihre Aufgabe erfüllten, funktioniere dieses System gut. Eine große Herausforderung sieht er hingegen in den “permanent steigenden Patientenzahlen, da so viele Kollegen ohne Nachfolger schließen”.
Vor diesem Hintergrund kann es sinnvoll sein, organisatorischen Druck aus der Anmeldung zu nehmen, etwa indem Patientenströme noch vor der Praxis gelenkt werden. Das kann zum Beispiel eine Telefonschaltung sein, bei der Patienten mit Rezept- oder Überweisungswunsch in eine eigene Leitung gelegt werden. Die Familienpraxis Karlstein hat gute Erfahrungen mit einem Kontaktformular auf der Homepage gemacht, über das Patienten einen Rückruf anfordern und Rezepte sowie Überweisungen bestellen können. Die MFA rufen in der Regel innerhalb von zwei Stunden zurück. “Das nimmt viel Stress aus der Anmeldung und wird von unseren Patienten gut genutzt”, sagt Dr. Alexander Miller. Am liebsten würde der Allgemeinmediziner einen Schritt weitergehen und einen Online-Terminkalender installieren. “Dieses System ist aber leider wegen unzureichender Schnittstellen mit der Praxissoftware so unausgereift, dass dies in absehbarer Zukunft keine Option sein wird.” Ohnehin nütze das beste System nichts, wenn Patienten es nicht annähmen.
Er spricht aus Erfahrung: Auf seiner Homepage können Patienten Rezepte oder Überweisungen anonym bestellen, müssen dafür aber ihre Patientennummer angeben. “Das macht kein einziger, obwohl die Datensicherheit wesentlich höher wäre. Doch die Hürde, eine Nummer einzugeben, ist offensichtlich schon zu hoch.” So bleibt es bei Anfragen mit Klarnamen und Anrufen.
Warten als soziales Miteinander
Gerade für die zwischenmenschliche Komponente hat das aber auch Vorteile. “Ältere Menschen freuen sich, die ihnen bekannte MFA-Stimme am Telefon zu hören”, sagt Monika Buchalik. Viele Menschen seien heute einsam, gibt auch Julia Riss zu bedenken. Für sie ist die Hausarztpraxis auch ein sozialer Treffpunkt: “Die Menschlichkeit ist insbesondere in der Allgemeinmedizin ein hohes Gut”, sagt Riss. “Wir vergeben sie, wenn wir den Tagesablauf in eine straffe Struktur zwingen, die wir unbedingt durchsetzen wollen.”