„Wer wird einmal für diese alten Patienten sorgen?“ Diese Frage treibt Dr. Bertel Berendes seit langem um. Während andere Ärzte in seinem Alter längst den Ruhestand genießen, führt Berendes seit nunmehr 45 Jahren seine Landarztpraxis im ostwestfälischen Lügde. „Ich bin wohl der am längsten niedergelassene Arzt in Deutschland“, sagt der 73-Jährige. Ans Aufhören denkt der Facharzt für Allgemeinmedizin noch nicht. Stattdessen macht er sich Gedanken um die künftige medizinische Versorgung der immer älter werdenden Bevölkerung. Ähnlich wie in anderen ländlichen Regionen herrscht auch zwischen Weserbergland und Teutoburger Wald akuter Ärztemangel. Berendes möchte junge Mediziner für den Hausarztberuf begeistern und hat deshalb seine alteingesessene Praxis als akademische Lehrpraxis zertifizieren lassen. Jetzt hat erstmals ein Medizinstudent bei dem 73-Jährigen eine Famulatur absolviert.
„Das war sehr interessant“, sagt Lucas Küppers. Der 22-Jährige, der aus dem nahegelegenen Bad Pyrmont stammt, absolviert seit acht Semestern einen Modellstudiengang an der Medizinischen Hochschule Hannover. Der Studiengang ist stark praxisorientiert, bereits ab dem ersten Semester sind die Studenten mit Patienten konfrontiert. Lucas Küppers hatte bereits 2013 zwei Wochen lang in der Praxis in Lügde hospitiert. Dort gefiel es ihm so gut, dass er im vergangenen Herbst auch die neu eingeführte Pflichtfamulatur für Allgemeinmedizin bei dem Landarzt absolvierte.
Große Bandbreite ist „spannend“
Der 73-Jährige ließ den Nachwuchsmediziner an seinem Erfahrungsschatz teilhaben. „Mir macht der Beruf vor allem deshalb großen Spaß, weil ich so viel selber machen kann“, meint Berendes. Als Hausarzt ist er die erste Anlaufstelle für die Patienten und hat dementsprechend mit unterschiedlichsten Krankheiten zu tun. Entsprechend vielfältig ist auch das Tätigkeitsspektrum: Abhören von Herz und Lunge, Fäden ziehen, Gefäßuntersuchungen, Langzeit-EKG, Lungenfunktionsprüfungen, Ultraschalluntersuchungen, kleine operative Eingriffe – Lucas Küppers bekam einen umfassenden Einblick in den Alltag eines Allgemeinmediziners. Gerade die große Bandbreite der ärztlichen Tätigkeiten sei ausgesprochen reizvoll, meint der 22-Jährige: „Man ist nicht spezialisiert auf ein Organ, sondern kann gewissermaßen den Arztberuf in seiner ursprünglichen Form ausüben. Das finde ich sehr spannend.“
Der Student war auch bei den Hausbesuchen von „Dr. Blitz“ mit dabei. So nennen die Patienten den Landarzt, weil er immer so fix zur Stelle ist, wenn sie medizinische Hilfe brauchen. An drei Nachmittagen pro Woche düst Berendes zu jenen Patienten, die den Weg in die Praxis nicht mehr schaffen. In den vergangenen Jahren sind es immer mehr geworden. „Als ich 1970 die Praxis von meinem Vater übernahm, war kein Patient über 90 Jahre alt“, erzählt der Landarzt. „Heute sind es 60 Patienten.“
Die meisten kennt er schon seit seiner Kindheit. Einige von ihnen leben in abgelegenen Bauernhäusern. Vor allem im Winter ist die bis zu 20 Kilometer lange Anfahrt eine Herausforderung, wenn er auf den 500 Meter hohen Köterberg – die höchste Erhebung des Weserberglandes – fahren muss. „Da bin ich schon öfter im Schnee steckengeblieben“, schmunzelt Berendes. Der 73-Jährige hat in seinem Berufsleben auch viele andere Herausforderun-gen gemeistert: „Ich habe in alten Bauernhäusern Patienten die steile Treppe heruntergetragen. Dreimal habe ich ohne Hebamme eine Hausgeburt betreut, dabei bin ich ganz schön ins Schwitzen gekommen.“ Berendes ist mit Leib und Seele Landarzt. „Mir macht die Arbeit vor allem deshalb immer noch Spaß, weil ich finanziell nicht mehr darauf angewiesen bin.“
Für junge Mediziner sehe die Lage dagegen anders aus. Dass sich heute nur noch wenige Ärzte auf dem Land niederlassen wollen, habe auch finanzielle Gründe: „Für einen Hausbesuch auf em Köterberg bekomme ich gerade mal 22,07 Euro – das ist doch irre.“
Berendes setzt sich seit vielen Jahren für strukturelle Veränderungen ein, um den Hausarztberuf attraktiver zu machen. Ein Vierteljahrhundert lang saß er als Vertreter in der Versammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe. Nicht nur in der Gesundheitspolitik, auch an den medizinischen Fakultäten müssten die Weichen anders gestellt werden, fordert er. „Manche Medizinprofessoren äußern sich abfällig über den Beruf des Landarztes und schrecken so die Studenten davon ab, sich als Hausarzt niederzulassen.“ Berendes hat das einst selbst erlebt. Nach seinem Medizinstudium habe er zunächst mit einem Stipendium an den Mayo-Kliniken und anschließend an einer deutschen Uni-Klinik gearbeitet, erzählt er. Als er nach einem halben Jahr seinem Professor eröffnete, dass er die Praxis seines Vaters übernehmen wollte, habe dieser das für einen schlechten Witz gehalten.
Auch Lucas Küppers könnte sich vorstellen, als Landarzt zu arbeiten. „Da ich aber noch nicht alle Fachrichtungen kennengelernt habe, ist meine Entscheidung noch offen“, sagt er. Immerhin hat er seine Erfahrungen in der Landarztpraxis als so positiv empfunden, dass er nun bei seinen Kommilitonen dafür wirbt, sich als Hausarzt niederzulassen. Andere tun es ihm nach: „Erstaunlich viele Kommilitonen tragen sich nach ihrer Famulatur mit dem Gedanken, Facharzt für Allgemeinmedizin zu werden und sich als Hausarzt niederzulassen.“
„Viel öfter positives Feedback“
Lucas Küppers hat vor allem die Atmosphäre in der Landarztpraxis gut gefallen. „Viele Patienten sind dort seit vielen Jahren bekannt, das schafft Vertrauen.“ Als Klinikarzt könne man dagegen kaum eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen, da die meisten Patienten nur über einen kurzen Zeitraum betreut würden. „Als Hausarzt kann man sich viel öfter über ein positives Feedback freuen.“ Außerdem könnten Niedergelassene ihre Arbeitszeiten flexibler gestalten.
So viel wie Bertel Berendes würde heute wohl kaum jemand mehr arbeiten wollen. „Ich habe die ersten 20 Jahre immer nur 14 Tage Urlaub gemacht“, erzählt der 73-Jährige. Für eine ausgewogene Work-Life-Balance schwebt dem Medizinstudenten ein anderes Modell vor: „Der Trend geht zur Gemeinschaftspraxis.“