Leitlinien sind keine Kochrezepte für individuelle Therapieentscheidung, weiß auch Dr. Markus Horneber, Leiter der Arbeitsgruppe Biologische Krebstherapie am Klinikum Nord in Nürnberg. Aber sie geben bis auf die individuelle Ebene hinunter.
Hilfen, um die Versorgung zu verbessern, zeigte er am Beispiels eines 62 Jahre alten Mannes, der aufgrund einer schweren zentralen Lungenembolie an sein Haus überwiesen wurde. Die Bildgebung zeigte eine zentrale pulmonale Raumforderung und Zeichen einer ossären Metastasierung, sodass der Verdacht einer Lungenkrebserkrankung bestand.
Anamnestisch gab der Mann an, dass seine Tochter an Krebs verstorben und der Sohn wegen einer fortgeschrittenen Krebserkrankung in Behandlung sei. Entsprechend war der Patient psychisch stark belastet. Zudem stand er allen vorgeschlagenen Maßnahmen ambivalent gegenüber.
In der aktuellen S3-Leitlinie zur Palliativmedizin gibt es für die Partizipation bei der Therapiezielfindung eine Soll-Empfehlung[1]. Das war auch im Falle des Patienten möglich, berichtete Horneber, allerdings schrittweise vom einen zum anderen diagnostischen Schritt bis zur Bestätigung eines ossär metastasierten Adenokarzinoms der Lunge und dann der entsprechenden Therapie.
Nebenwirkung oder Komorbidität?
Eine Woche nach Erhalt des ersten Chemotherapie-Zyklus wurde der Patient wegen eines “Schwächezustands” wieder eingewiesen. Er war erschöpft, kraftlos, hatte keinen Appetit mehr und litt unter Schlafstörungen.
Außerdem wies er eine subfebrile Temperatur auf und es gab Infektzeichen im Labor (Leukozyten 2,3/nl, C-reaktives Protein [CRP] 6,5 ml/dl) sowie ein fragliches Infiltrat links basal im Röntgenthorax – der Patient hatte eine Pneumonie.
Nach der S3-Leitlinie Palliativmedizin sollten aber auch die Fatigue-Symptome differenzialdiagnostisch abgeklärt werden, da Ursachen der Erschöpfung wie Medikamentennebenwirkungen oder eine Depression behandelbar sind. Für das Depressionsscreening ist der PHQ-2-Test mit Fragen nach Interessensverlust und niedergeschlagener Stimmung hilfreich.
Antidepressive Therapie bei Krebspatienten
Der Patient hatte tatsächlich eine leichte bis mittelgradige Depression und berichtete, dass er schon früher unter einer Depression gelitten habe. Aus dieser Zeit habe er noch Sertralin, das könne er ja wieder einnehmen.
Prinzipiell entspricht diese medikamentöse Therapie der Leitlinienempfehlung bei Depression [4]. Der Patient stand nach der Lungenembolie aber unter Antikoagulation. Sertralin und andere selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) können über den Serotonin-Spiegel der Thrombozyten das Blutungsrisiko erhöhen.
Die S3-Leitlinie Psychoonkologie empfiehlt in diesem Fall Antidepressiva mit geringer Affinität zum Serotonin-Transporter, also beispielsweise Bupronion, Mirtazapin, Trazodon oder Trimipramin [3].
Schlafstörungen eruieren
Nach dem zweiten Kurs Chemotherapie wurde der Patient erneut eingewiesen, dieses Mal mit akutem Schmerzsyndrom und Leukopenie. Er wies eine pathologische Fraktur der 9. Rippe und eine Neutropenie Grad 4 auf.
Außerdem gab er an, dass er unter der antidepressiven Therapie mit Mirtazapin, das wegen seiner günstigen Effekte auf Angst und Schlafstörungen als antidepressive Medikation gewählt worden war, zwar besser gestimmt sei, allerdings schlecht schlafe, rasch erschöpft sei und immer müde.
Hinweise auf Schlafstörungen sollte man bei Krebspatienten explizit erfragen und etwaigen Hinweisen nachgehen, empfiehlt die S3-Leitlinie Palliativmedizin [1]. Im Falle des Patienten stellte sich heraus, dass er schon früher unter einem Restless-Legs-Syndrom gelitten hatte, das nun unter der antidepressiven Therapie mit Mirtazapin aggraviert war.
In diesem Fall sollte man nicht die antidepressive Medikation absetzen, betonte Horneber. Die Palliativ-Leitlinie empfiehlt, synergistische Effekte anderer Symptom-orientierter Therapien zu nutzen. Der Beginn der analgetischen Therapie mit Tilidin/Naloxon wegen der akuten Schmerzen besserte tatsächlich die Schlafstörungen des Patienten rasch und Mirtazapin als wirksames Antidepressivum konnte weiter eingenommen werden.
Aktivität ist lange möglich
Der Patient berichtete aber immer noch über eine persistierende Fatigue. Die Palliativ-Leitlinie empfiehlt für Patienten mit nicht heilbarer Krebserkrankung und tumorbedingter Fatigue ein regelmäßiges Ausdauer- und Krafttraining [1].
Das ist bei Menschen mit Knochenmetastasen und Lungenkrebs nur bedingt möglich. Hier gibt die Leitlinie Komplementärmedizin Hilfestellung [2]. Danach kommen auch sanfte Formen wie Tai Chi/Chigong infrage. Horneber kontaktierte einen Anbieter zertifizierter Tai-Chi-Kurse vor Ort. Sein Patient nimmt diese Termine inzwischen gerne wahr und hat nach eigenem Bekunden richtig Spaß daran.
Quelle: Vortrag M. Horneber: Update Deutsche Querschnittsleitlinien: Palliativmedizin, Komplementärmedizin, Psychoonkologie. Virtueller Jahreskongress 2023 der Arbeitsgemeinschaft Supportive Maßnahmen in der Onkologie (AGSMO) am 13. Mai 2023
Literatur
- S3-Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung. AWMF-Registernummer: 128-001OL
- S3-Leitlinie Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen. AWMF-Registernummer: 032-055OL
- S3-Leitlinie Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatienten. AWMF-Registernummer: 032-051OL
- Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression, AMWF-Registernummer: nvl-005, Entwicklungsstufe: S3