© R. Eichinger, K. Klink „Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen,“ Springer 2020 Therapieansätze
Störungen meist funktionell bedingt
Myofasziale Störungen haben meist keinen somatischen Ursprung, sondern sind rein funktioneller, neuronaler Natur: Bei den meisten meiner betroffenen Patienten finde ich keinen somatischen lokalen Befund.
Zudem zeigte eine Studie von Torsten Pippig, der 488 Wirbelsäulen-MRT beschwerdefreier junger Männer untersuchte, dass nahezu jeder somatische Pathologien aufwies. Deshalb sind bildgebende Verfahren im Rahmen myofaszialer Störungen meist unsinnig.
Häufige “knotenspezifische” Symptome:
Kalottenknoten
Kopfschmerzen, Migräne mit Licht- oder Geräuschempfindlichkeit
Sehstörungen, meist mit wechselnden Flecken oder Schatten im
Gesichtsfeld (Mouches voilantes, Fokussierungsprobleme)
die Welt „wie hinter einem Vorhang“ erleben, „nicht richtig
denken“ können
Pharyngealer Knoten
Ohrenschmerzaen, Tubenbelüftungsstörungen
Tinnitus, Vertigo, Hörsturz
Kieferschmerzen, Kiefersperre
Nackenschmerzen, Bewegungseinschränkungen, Kloßgefühle, Schluckstörungen
Heiserkeit, laryngealer Reizhusten, Phonationsstörungen
Oberer thorakaler Knoten (mit Kette in den Arm)
Schulterschmerzen jeglicher Art und Ausprägung
Bewegungseinschränkungen, Schwellungen, Parästhesien im Arm
Arthralgien, Insertionstendopathien, Tennisellenbogen
Tendovaginitis
Intercostalneuralgien
Atembeklemmungen, Druckgefühl, Angina-ähnliche Beschwerden (meist in Ruhe)
Unterer thorakaler Knoten
Atembeklemmung
Schmerzen unterer Thoraxbereich und obere LWS, Intercostalneuralgien
Druckgefühle im Oberbauch (oft mit Nausea), Völlegefühle, Gastralgien
Sakraler Knoten
Schmerzen LWS, Bewegungseinschränkungen
Leistenschmerzen, Leistenschwellungen, skrotale Schmerzen
Harndrang, Blasenentleerungsstörungen (bei Kindern oft als Überlaufblase)
Coxalgien, Bewegungseinschränkung und Schmerzen der Beckenmuskulatur
Parästhesien im Bein, „schwere Beine“, Beinschwellungen sehr oft myogelotischer Affizierung des M. tensor fasciae latae
Meiner Meinung nach sind myofasziale Störungen neurologisch affizierende Erkrankungen, die meist in den Knotenarealen liegen. Durch eine Compliance-Änderung von Strukturen im Knoten kommt es zu einer neurogenen Störung der myofaszialen Afferenzen zum ZNS, was reaktiv zu Verspannungen des myofaszialen Organs führt.
Compliance bedeutet hier die Möglichkeit einer Struktur oder eines Organs, der Bewegung zu folgen. Zentral im Geschehen sind also veränderte Organe in Knoten, die den allgemeinen Körperbewegungen nicht mehr dynamisch folgen können. Klassisches Beispiel ist eine restriktive Lungenerkrankung, die zu einer Fibrose der Lunge führt. Gleiches gilt für eine zirrhotische Leber, einen chronisch geblähten Darm, eine dilatative Kardiomyopathie oder Ödeme bei Zahnherden.
Fehlender “Lotdurchgang”
Zur Beschreibung der Fehlfunktion des myofaszialen Organs bei einer Blockade nutze ich den Begriff “Lotdurchgang”. In jeder Bewegung müssen Phasen der partiellen Entspannung des myofaszialen Organs integriert sein, damit dessen Funktion selbst bei langer Belastung intakt bleibt.
Ein geübter Tennisspieler positioniert den Arm aktiv und trifft den anfliegenden Ball in der schwunghaften Auflösung seiner Ausgangspositionierung. Während des Schwungs im Schlag befindet sich der Arm kurz im Lotdurchgang und ist entspannt. Ein ungeübter Tennisspieler hingegen verkrampft auch im Schwung des Schlags und entwickelt so einen Tennisellenbogen.
Buchtipp: “Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen: Diagnostik und Therapie”, Eichinger R, Klink K. Springer Verlag, 1. Aufl. 2020 ISBN: 978-3662595053
Der Mechanismus hinter einer Tendovaginitis nach längeren Malerarbeiten ist ähnlich: Auch hier fehlt es dem Ungeübten an Lotdurchgängen. Es kommt zu Myogelosen und reaktiv zu trophischen Störungen der Sehnenscheide. Ruhigstellung ist dann kontraproduktiv: Die Störung ist keiner “Überlastung” geschuldet, sondern der fehlerhaften Dynamik im Ablauf repetitiver Bewegung ohne Lotdurchgang.
Und genau hier muss manuelle Therapie ansetzen: Das myofasziale Organ wird deblockiert, sodass Lotdurchgänge wieder möglich werden. Dies kann chirotherapeutisch oder durch andere manuelle Therapieformen der Physiotherapie erfolgen.
Auch permanenter, invariabler neurologischer Input führt zu Myogelosen. Diesen Pathomechanismus beobachten wir etwa, wenn Patienten einen “Zug” – also einen permanenten, taktilen Reiz durch Luft –bekommen haben.
Ursachen finden
Viele myofasziale Beschwerden sind durch einmalige Manipulationen heilbar – etwa Spannungskopfschmerzen nach einer langen Sitzung oder Rückenschmerzen nach einer langen Autofahrt. Rezidivieren Störungen jedoch immer wieder, müssen wir die auslösende Ursache finden und behandeln.
Diese liegt meist in den Knotenarealen. Bei meinen Patienten beobachte ich oft psychische Ursachen, skelettäre Auslöser haben eine geringere Bedeutung. Darmstörungen im Sinne von Nahrungsmittelintoleranzen mit Meteorismus und Obstipation sind bei Frauen häufiger. Die Ursache ist hier oft die hormonelle Umstellung nach einer Schwangerschaft oder im Klimakterium.
Ein überblähter, gefüllter Darm ist in der Bewegung nicht mehr so compliant und affiziert so das myofasziale Organ. Bei den neuropathischen Störungen nehmen bei meinen Patienten Neuroborreliosen, Nervenläsionen nach Trauma und diabetogene Neuropathien eine Schlüsselstellung ein. Wichtig sind zudem Zahnerkrankungen, vor allem bei Kindern.
Dies liegt meist an kieferorthopädischen Behandlungen: Werden Zahnpositionen korrigiert, ist das immer mit aseptischen Resorptions-Kieferostitiden und Spannungen im Kalotten- und Pharyngealknoten verbunden. Ich sehe oft junge Patienten, die am Tag nach der Spangeneinstellung einen Migräneanfall haben.
Es gibt physiotherapeutische Tests, die die affizierten Knoten ermitteln sollen. Viele Symptome sind jedoch “knotenspezifisch” (siehe Kasten oben) und geben so einen Hinweis, auf welches Areal wir die Diagnostik konzentrieren sollten. Die Ursachenfindung in den einzelnen Knoten können Algorithmen erleichtern, siehe Abbildung 3:
© R. Eichinger, K. Klink „Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen,“ Springer 2020 Untersuchungsalgorithmus bei Störungen im Pharyngealknoten
Fazit
Myofasziale Störungen sind sehr häufig. Bei der Ursachenfindung und Behandlung ist eine enge Kooperation mit Physiotherapeuten und Ärzten anderer Fachrichtungen wichtig.
So kann den Patienten schnell und nachhaltig geholfen werden, was angesichts begrenzter Ressourcen auch große ökonomische Vorteile bringt.
Literatur beim Verfasser
Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert
Link-Tipp: Weitere Infos über myofasziale Zusammenhänge, auch kuriose Fälle in Videos, finden Sie unter www.myofaszial.eu