Marburg. Regresse wegen zu häufig abgerechneter 35100 und 35110 EBM beschäftigen derzeit das Sozialgericht Marburg (SG) und das hessische Landessozialgericht (LSG). In einem ersten Verfahren hat das Sozialgericht die Spruchpraxis des hessischen Beschwerdeausschusses für nicht zulässig angesehen und daher den Regressbeschluss zurückgewiesen.
Dies hat allerdings noch keinen Bestand, da der Beschwerdeausschuss derzeit vom Landessozialgericht die Rechtsgültigkeit des Urteils kontrollieren lässt. Inzwischen liegen dem SG Marburg bereits sechs Klagen mit ähnlichem Inhalt vor, das diese ruhen lässt, bis das LSG entschieden hat.
Tipp: Dennoch können Ärztinnen und Ärzte, die einen Regress zur 35100 und 35110 EBM erhalten haben, von der aktuellen Situation profitieren. So können betroffene Praxen erwägen, einen Widerspruch und, wenn nötig, eine Klage gegen den Beschwerdeausschuss ihrer Kassenärztlichen Vereinigung (KV) einzureichen. Darin können Sie sich auf die folgenden anhängigen Verfahren berufen: SG Marburg S 17 KA 527/20, S 17 KA 223/17, S 17 KA 409/17, S 17 KA 476/17, S 17 KA 234/21, S 17 KA 12/18, S 17 KA 13/18, S 17 KA 527/20.
Sozialgericht weist Beschwerdeausschuss zurecht
Doch was hat das SG Marburg konkret beanstandet? Zum Hintergrund: Nach Paragraf 106 SGB V sollen KVen und Kassen die Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Leistungen kontrollieren. Dies tun sie anhand verschiedener Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Beratungen.
Nach der Spruchpraxis des Bundessozialgerichts (z. B. AZ: B 6 KA 2/19 R), dürfen diese Prüfgremien Honorare sogar pauschal kürzen, wenn das Verordnungsverhalten eines Arztes in „offensichtlichem Missverhältnis“ zum durchschnittlichen Aufwand der Vergleichsgruppe steht und dies nicht durch Praxisbesonderheiten oder Behandlungsgründe erklärbar ist. Laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung handelt es sich dabei um eine unbestimmte Grenze, in der Spruchpraxis habe sich aber in etwa eine Fallwertüberschreitung von 50 Prozent etabliert.
In den letzten Jahren hat dies teilweise dazu geführt, dass solche Honorarkürzungen oder Regresse mitunter sehr schnell – also ohne tiefergehende Prüfung – ausgesprochen wurden. Dieser Praxis könnte das SG Marburg nun einen Riegel vorschieben.
Unwirtschaftlichkeit ist genauer zu begründen
Denn in seinen Urteilen hat das SG Marburg dieses Vorgehen der hessischen Prüfstelle als nicht erlaubt eingeschätzt. Als Gründe dafür gibt es an:
- Bei einer Einzelfallprüfung habe die Prüfstelle die Dokumentation des konkreten Behandlungsfalles daraufhin zu untersuchen, ob der Ansatz der Gebührenordnungsposition (GOP) des EBM wirtschaftlich erfolgt sei. Dazu sei der jeweilige Abrechnungsfall zu betrachten, sodass die Patientendokumentation des Arztes zu kontrollieren ist. Allein die Psychotherapie-Richtlinie sehe vor, dass psychosomatische Leistungen – Diagnostik, wesentliche Inhalte und therapeutische Interventionen – zu dokumentieren sind.
- Darüber hinaus sei eine F-Diagnose keine Voraussetzung, um die 35100 oder 35110 EBM abzurechnen.
- Aus dem Regressbescheid müsse zu erkennen sein, wie die Prüfstelle das Verordnungsverhalten des Arztes beurteilt hat und auf welchen Gründen die Kürzung fußt. Dies hätte im streitigen Fall nicht nachvollzogen werden können: Hier hätte der Arzt also nicht erkennen können, warum ihm die Prüfstelle eine unwirtschaftliche Verordnung vorwerfe – außer eines zu häufigen Ansatzes der 35100 EBM verglichen mit der Fachgruppe.
Als Quintessenz lässt sich also festhalten, dass Prüfstellen bei einer Einzelfallprüfung die ärztliche Dokumentation zu kontrollieren haben und auf Basis dessen einen Psychosomatikregress begründen müssen. Allein der zu häufige Ansatz einer GOP reicht nach Auffassung des SG Marburg dazu nicht.
Kritik an Prüfmethode
Den Anfang machte eine Allgemeinmedizinerin aus Hessen: Von 2012 bis 2014 soll sie die 35110 zu häufig abgerechnet haben, weswegen ihr Honorar um rund 31.430 sowie 21.432 Euro gekappt werden soll. Der Bescheid des hessischen Prüfgremiums bezog sich aber nur auf die Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts der Hausärzte.
Das SG Marburg hob beide Regressbescheide auf und forderte den Beschwerdeausschuss auf, alle zwölf Quartale neu zu bescheiden. Denn dem Gericht zufolge reiche hier eine Prüfung nach Durchschnittswerten nicht. Vielmehr seien Behandlungsverhalten und Praxisbesonderheiten einzubeziehen. Dies erfordere eine Einzelfallprüfung.
Dies sieht der Beschwerdeausschuss anders und ist daher nun vor das LSG gezogen, um die Rechtsgültigkeit des Marburger Urteils prüfen zu lassen. Falls die Landesrichter den Marburgern zustimmen, könnte sogar ein neuer Präzedenzfall entstehen – der dann auf andere KVen und womöglich andere Gesprächsleistungen übertragbar wäre. Der Beschwerdeausschuss kann in letzter Instanz aber auch noch das Bundessozialgericht anrufen. (GWZ, jvb)