Der Praktische FallGeschäftsunfähigkeit: Richter statt Hausärzte gefragt

Kann ein Arzt einen zwei Jahre zurückliegenden Sachverhalt attestieren? Selbst wenn es das Gedächtnis erlauben würde – rechtlich begeben sich Hausärztinnen und Hausärzte beim Thema Geschäftsunfähigkeit schnell in eine Grauzone.

Für Hausärzte stellen sich oft rechtliche Fragen. Praxistipps geben Experten des Deutschen Hausärzteverbands im “praktischen Fall”.

Arzt A. sieht sich mit einer schwierigen Rechtsfrage konfrontiert (s. Kasten). Grundsätzlich ist es Aufgabe eines Gerichts festzustellen, ob eine Person geschäftsfähig ist oder nicht. Der Arzt schafft hierfür durch seine medizinische Einschätzung lediglich eine Grundlage für die richterliche Entscheidung, indem er aus seiner fachlichen Sicht mitteilt, ob psychopathologische Anknüpfungstatbestände vorliegen. Sodann hat das Gericht zu entscheiden, ob – nach richterlicher Würdigung – eine Person nicht zu einer freien Willensbildung fähig ist. Im konkreten Fallbeispiel ergeben sich drei wichtige Fragen, die es zu klären gilt.

1. Dauerhafte Störung oder vorrübergehender Zustand?

Nach gesetzlicher Regelung ist geschäftsunfähig, “wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist” (Paragraf 104 Nr. 2 BGB). Ist jemand geschäftsunfähig, so ist er also grundsätzlich und dauerhaft nicht mehr in der Lage, eigene (Willens-)Erklärungen abzugeben, die für und gegen die Person wirken.

Abzugrenzen hiervon ist eine lediglich vorübergehende Störung der Geistestätigkeit einer Person. Ein solcher vorübergehender Zustand führt in rechtlicher Hinsicht dazu, dass eine in diesem Zustand abgegebene (Willens-)Erklärung grundsätzlich nichtig ist (Paragraf 105 Abs. 2 BGB); die Erklärung gilt als nicht abgegeben. Klassische Beispiele, in deren Kontext eine vorrübergehende Beeinträchtigung der Geistestätigkeit in Frage kommen kann, sind Alkoholintoxikationen, Delirien oder aber bipolare Erkrankungen.

Blick in die Praxis: Im Praxisalltag dürften Zustände vorübergehender Störungen der Geistestätigkeit um ein Vielfaches häufiger vorkommen als eine andauernde Geschäftsunfähigkeit im Sinne des Paragrafen 104 Nr. 2 BGB.

So dürfte es auch im geschilderten Fall von Arzt A. liegen: Obgleich es der ärztlichen Beurteilung im Einzelfall obliegt, spricht viel dafür, dass im Fall der Patientin P. keine Grundlage für eine andauernde Geschäftsunfähigkeit zu sehen ist. Vielmehr könnte die Frage im Raum stehen, ob Patientin P. sich im Zeitpunkt ihres Scheidungstermins in einem Zustand vorübergehender Störungen der Geistestätigkeit infolge der diagnostizierten “akuten Belastungsreaktion” befand.

2. Reicht die AU-Bescheinigung aus?

Um die unter 1. ausgeführte Unterscheidung zu bescheinigen, bedarf es jedoch gerade keiner erneuten ärztlichen Beurteilung durch Arzt A. Die Diagnose “akute Belastungsreaktion” ist bereits im Rahmen der AU-Bescheinigung hinreichend “attestiert” worden und kann die Grundlage für die beschriebene Wertung durch ein Gericht bilden.

Reicht dem Gericht die seinerzeit von Arzt A. mitgeteilte Information zur endgültigen Beurteilung der Geschäftsfähigkeit bzw. vorrübergehenden Störung der Geistestätigkeit nicht aus, so steht dem Gericht die Möglichkeit offen, hierzu beispielsweise ein Sachverständigengutachten einzuholen.

3. Welche Haftungsrisiken drohen?

Hätte Arzt A. seinerzeit keine AU-Bescheinigung ausgestellt, sollte er von einer – nachträglichen – Bescheinigung absehen. Das Ausstellen falscher AU-Bescheinigungen bzw. sonstiger ärztlicher Bescheinigungen, ohne dass der ausstellende Arzt sich unmittelbar und persönlich von dem Zustand der Patientin überzeugt hat, kann für den Arzt weitreichende Folgen – sogar bis hin zur Entziehung der Approbation – haben.

So hat etwa das Verwaltungsgericht München (VG München, Urteil vom 22. Juni 2010, AZ.: M 16 K 10.839) die Entziehung der Approbation eines Arztes, welcher falsche AU-Bescheinigungen in betrügerischer Absicht über einen längeren Zeitraum ausgestellt hat, bestätigt. Der durch die falschen Krankmeldungen entstandene Schaden lag bei rund 30.000 Euro. Wenngleich dieses Urteil aufgrund des vorsätzlichen Handelns einen drastischen Ausnahmefall darstellt, ist ersichtlich, dass die Verpflichtung zur besonderen Sorgfalt bei der Ausstellung von AU-Bescheinigungen ernst zu nehmen ist. Dies hat im Übrigen auch für alle weiteren ärztlichen Bescheinigungen zu gelten.

Merke: Verstöße gegen die in den Berufsordnungen verankerte Sorgfaltspflicht bei der Ausstellung von AU-Bescheinigungen können berufsrechtliche Maßnahmen wie Verweis und Geldbuße nach sich ziehen (s. Link-Tipp).

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