Praxis WissenGeblendete Wahrnehmung

Bei der Diagnose spielen häufig auch unterschwellige Informationen eine wichtige Rolle. Gerade bei komplexen Therapien oder schwierigen Patiententypen kann dies schnell aus dem Blick geraten. Doch dem können Hausärzte mit einfachen Regeln vorbeugen.

Auch Hausärzte müssen oft komplexe Therapien und deren Folgen überwachen. Im dargestellten Fall kann eine thyreostatische Therapie die verschiedensten Konsequenzen haben. Einfache Regeln helfen dem Team, dann den Durchblick zu behalten.

Stark verkürzt (Fall #834) berichtet ein Hausarzt, dass er einen Patienten mit M. Basedow über längere Zeit thyreostatisch mit Thiamazol behandelt hat. Ein Absetzversuch steht ohnehin an; wegen einer Katarakt-OP wird das Medikament (mit Kenntnis des Hausarztes?) tatsächlich abgesetzt. Gleichzeitig versucht der adipöse Patient abzunehmen, was ihm auch gelingt: Er verliert sogar 35 Kilogramm. Der Hausarzt wird aufmerksam, als der Patient über Symptome klagt, die auf eine Hyperthyreose hindeuten könnten. Der Arzt hat aber keine Schilddrüsenwerte zur Hand. Er verkennt dies als mögliche Symptome eines zu schnellen Gewichtsverlusts. Als die Symptome sich verschärfen, weist er den Patienten ein. Es folgen zwei dramatische Krankenhausaufenthalte.

Die Behandlung von gravierenden Schilddrüsen-Dysfunktionen ist eine sehr komplexe Therapie, weil sie im Hinblick auf sehr verschiedene Symptome überwacht werden muss. Einen Anhaltspunkt geben jeweils Laborwerte (TSH, FT3 usw.), die mit der Symp-tomatik abgeglichen werden müssen [1]. Dennoch liegt die Therapie in der Hand des Hausarztes und der Fallbericht zeigt, daß der Berichtende dem Fall prinzipiell gewachsen war. Drei Folgerungen sind naheliegend:

❶ Es ist angenehm, ein erwünschtes Ergebnis (hier den Gewichtsverlust) in der Schilderung des Patienten wiederzufinden. Das ist aber auch ein kognitives Problem im diagnostischen Prozess. In hochwertigen Studien zur Diagnostik wird dies dadurch ausgeschlossen, dass man die Bewerter eines Ereignisses gegen die Zuordnung verblindet. Der Hausarzt ist nie verblindet, sondern kennt seine Patienten – er sollte daher auch Erfolge kritisch betrachten.

❷ Zweiter und wichtigster Punkt, auf den auch der Berichtende aufmerksam macht: In der Praxis braucht es bei allen (relevanten) diagnostischen Aufgaben (hier: TSH-Wert nach Auslassen eines Thyreostatikums) einen systematischen Reminder, eine Erinnerungsfunktion. Und Ärzte müssen dafür sorgen, dass – teilweise unterschwellige – Informationen (“vor der Katarakt-OP wurden alle nicht unmittelbar notwendigen Dauermedikamente abgesetzt”) auch aufgenommen werden. Andere Fälle, zuletzt Fall #864 (bit.ly/1Ual3vm, unterstreichen dies. Es kommt also – vor jeder internistischen Virtuosität in der Diagnose – darauf an, die Basisdaten zu haben. Haben Sie zum Beispiel eine Übersicht über dringliche Laboruntersuchungen? Dringliche Laboruntersuchungen müssen aufgelistet werden können:

  • bei Indikation (etwa Entlassungsbrief)
  • nach Termin
  • und auch (wie hier) wenn ausstehend, weil Patient nicht will.

❸ Schließlich kommt der Berichtende nicht umhin, auch die Charakteristik des Patienten zu zitie- ren. Dieser wird als “fordernd”, gleichzeitig mit “viel Verve, sein Gewicht zu reduzieren” beschrieben. Welcher Patiententyp gemeint ist, werden Sie aus Ihrer Praxis unschwer kennen. Das ist aber dennoch ein Patiententyp, bei dem sich Fehler in der Kommunikation besonders häufig ereignen. Patientenmerkmale und Kommunikationsstörungen tragen häufig zur Entwicklung von Fehlern bei.

Auch wenn wie hier eine komplexe kognitive Diagnoseleistung erforderlich ist, tragen sichere Routinen und das “Sicherheitsklima” mit dazu bei, diese Leistungen abzusichern.

Literatur: 1. Für die Hypothyreose wird noch in diesem Sommer eine DEGAM-Leitlinie erscheinen: www.degam.de

Fehlerbericht #834

Die Gabe von Thiamazol wurde beendet bei Morbus Basedow und Euthyreose nach zwei Jahren Einnahme, bei zuvor stattgehabter Hypothyreose unter Thiamazol 20 mg 1-0-0 und diffuser mässig-gradiger Toxizität laut szintigraphischem Befund.

Der Patient hat bei Adipositas permagna (BMI 45) gewollt 35 kg in einem Jahr abgenommen. Am Ende dieses Zeitraums hausärztliche Vorstellung mit Muskelschwäche und er beklagt beim Praxisbesuch, dass das Gehen sehr schwer falle und er müde und schwach sei. Eine Überweisung zum Muskelaufbautraining wird ausgestellt. Eine Beendigung der Diät wird thematisiert.

Was war das Ergebnis?

Einen Monat später erfolgt ein Hausbesuch bei allgemeiner Schwäche, Sinustachykardie, Exophthalmus, Inappetenz und Schluckstörung. Die Einweisung ins Krankenhaus ergibt eine massive Hyperthyreose mit Myositis, Orbitaendokrinopathie und normochromer normozytärer Anämie. Bei Neuetablierung von Thiamazol Therapie GSK, CSK, stat. Aufenthalt. Nach Beginn einer Cortisontherapie erleidet der Patient eine Steroid-induzierte Psychose und wird mit Wahnsymptomen in der psychiatrischen Ambulanz vorstellig. Der Op-Termin zur Schilddrüsenresektion wurde für zwei bis drei Monate nach diesem Ereignis angesetzt.

Mögliche Gründe, die zu dem Ereignis geführt haben können?

Nach Absetzen des Thiamazol wurde vergessen, TSH-Kontrollen durchzuführen – geblendet durch den massiven gewollten Gewichtsverlust wurde das insgesamt aus dem Fokus verloren. In der Gesamtkonstellation Ablenkung durch so nicht gekannte Körpergewichts-Reduktion und durch immer schon sehr fordernde Persönlichkeit des Patienten.

Welche Maßnahmen wurden aufgrund dieses Ereignisses getroffen oder planen Sie zu ergreifen?

Guidelines Studium zur Evaluierung von Schilddrüsen-Kontrolle nach Absetzen von Thiamazol. Teambesprechung und Karteireiter eingerichtet für notwendige Laborkontrollen und Recall System eingerichtet.

Scheitern aber noch immer am Unwillen der Patienten diese Kontrollen und Termine auch fristgerecht durchführen zu können.

Auf Rückfrage erfolgte Ergänzungen:

1. Antwort auf die Rückfrage nach den genauen zeitlichen Abläufen der Ereignisse:

Der Patient hatte Thiamazol 20mg 1-0-1 bereits mehr als zwei Jahre eingenommen, bevor in mehreren Anläufen und Gesprächen über ein Ausschleichen und ein “wait and see” gesprochen wurde. Laut Guidelines ist ein Ausschleichen nach ein bis zwei Jahren thyreostatischer Therapie angezeigt! Vor einer zu diesem Zeitpunkt anstehenden Augen-Op (Cataract beidseits) wurde Thiamazol abgesetzt (FT3 3,76; FT4 2,20; TSH 0,01; in den Monaten zuvor eu- bis hypothyreot). Dann erfolgte die beidseitige Cataract-OP mit Laborkontrollen im nahen Bezirkskrankenhaus (kein Labor vorliegend). Im Arztbrief auch keine Orbitopathie beschrieben. Laut den Guidelines ist eine Kontrolle des TSH dann in zwei bis drei Monaten wieder angezeigt. Da war dann die Hyperthyreose leider mit Macht zurückgekehrt. Zwei Monate nach Absetzen hat mich der Patient in der Praxis aufgesucht mit Muskelschwäche und dem massiven Gewichtsverlust (35kg in sechs Monaten), den er als gewollt beschrieben hat. An eine Hyperthyreose hatte ich nicht gedacht, ich dachte eher an Muskulaturverlust mit Schwäche durch die Diät. Ich habe daher zu einem FA für Physikalische Medizin zum Muskelaufbau überwiesen.

2. Antwort auf die Rückfrage zu dem Beginn der Diätbestrebungen (vor oder nach dem Absetzen der Medikation):

Die Diät hatte der Patient mit Verve acht Monate vor Ende der thyreostatischen Therapie begonnen.

Schildern Sie Ihren Fall

Wir führen derzeit eine größere Befragung im Internet zu Diagnostischen Fehleinschätzungen im hausärztlichen Bereich durch und laden Sie ein, uns Ihren Fall zu schildern: http://allgemeinmedizin-marburg.limequery.org/index.php/466465/lang-de

www.jeder-fehler-zaehlt.de

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