Ärzte können, juristisch betrachtet, den Patienten nutzlose Maßnahmen verwehren. Daher kommt dem ärztlichen Urteil eine so große Bedeutung zu. Aber um den Nutzen einer Maßnahme zu beurteilen, müssen Ärzte Wertmaßstäbe anlegen und hier liegt das Problem: Die Werte des Arztes können von denen des Patienten abweichen. Welches Behandlungsziel verfolgt werden soll und wie positive und negative Eigenschaften einer Behandlung gewertet werden, sind solche Werturteile, die einerseits Patient und Arzt unterschiedlich beurteilen können und andererseits in die Indikation einfließen, die den gesetzlichen Anspruch des Patienten begrenzt. Trotzdem werden bei der Indikation die eingeflossenen Werturteile in der Regel nicht mit dem Patienten erörtert.
Die Indikation: Mit der Indikation begründet der Arzt die Therapie, die er dem Patienten empfiehlt und sie begrenzt die Ansprüche des Patienten. Der Bundesgerichtshof stellt dazu in einem Urteil vom 17. März 2003 (Az.: XII ZB2/03, S 23) fest: “Die medizinische Indikation, verstanden als das fachliche Urteil über den Wert oder Unwert einer medizinischen Behandlungsmaßnahme in ihrer Anwendung auf den konkreten Fall (…) begrenzt insoweit den Inhalt des ärztlichen Heilauftrags (…).”
Wie ist “Indikation” definiert?
Zwischen dieser sehr großen praktischen Bedeutung der Indikation und der sehr unklaren Bedeutung des Wortes “Indikation” besteht eine große Diskrepanz. Klar ist, dass die Indikation das ärztliche Urteil darüber ist, wie angemessen eine Maßnahme ist. Dieses Urteil fällt der Arzt aufgrund seiner Fachkompetenz. Auch ist klar, dass diese Beurteilung Werturteile erfordert. Diese Verschmelzung von Fachkompetenz und Werturteil aber ist problematisch, weil der Arzt sich in der Regel nicht bewusst macht, welche Werturteile seiner Indikation zu Grunde liegen.
Der Eindruck, die Indikation sei ein rein medizinisches Urteil, das nur der Arzt treffen kann, ist also falsch! Vielmehr wählt der Arzt eine Maßnahme aus, mit der er ein legitimes und erreichbares Ziel erreichen möchte. Dafür muss er entscheiden, welches Ziel legitim ist und trifft damit eine normative (einen Maßstab für etwas darstellend) Entscheidung. Die damit einhergehenden Werturteile verschmelzen in der Indikation mit den medizinisch-fachlichen Zusammenhängen zu einem scheinbar wissenschaftlich neutralen Urteil und werden mit dem Patienten in der Regel nicht besprochen.In einer so pluralistischen Gesellschaft wie der unsrigen kann aber nicht unausgesprochen davon ausgegangen werden, dass Arzt und Patient die gleichen Werte teilen.
Wirksamkeit und Nutzen trennen
Mit den Begriffen “Wirksamkeit” und “Nutzen” können der normative und der wissenschaftlich-fachliche Anteil der Indikation voneinander getrennt werden. Die Wirksamkeit ist ein Maß dafür, wie gut eine ärztliche Maßnahme geeignet ist, ihr Ziel zu erreichen und wie wahrscheinlich sie das Ziel erreicht. Zu beurteilen, wie wirksam eine Maßnahme ist, erfordert die ärztliche Kompetenz.
Ob sie aber dem Patienten nützt, hängt davon ab, ob das Ziel für den Patienten auch erstrebenswert ist. Dieses Urteil aber ergibt sich nicht allein aus medizinischem Fachwissen, es müssen dafür die Lebenschancen gegenüber möglicherweise herabgesetzter Lebensqualität und anderen Belastungen abgewogen werden.
So ist zwar die ärztliche Kompetenz gefragt, wenn es um die Frage geht, welche Nebenwirkungen wahrscheinlich eintreten werden, das Urteil jedoch, ob die zu erwartenden Nebenwirkungen geringer oder schwerer wiegen als die Einschränkungen durch die Erkrankung oder gar den Tod, urteilen wieder über den Nutzen der Maßnahme. Sie fragen danach, ob die Gesamtbilanz von Schaden und Nutzen für den Patienten positiv ist. Solche Urteile berühren die sehr persönlichen Vorstellungen von einem guten und gelingenden Leben.
Wirksamkeit und Nutzen können in zwei Stufen beurteilt werden: Im ersten Schritt wird der Fall medizinisch aufgearbeitet, indem festgestellt wird, mit welchen Maßnahmen welche Ziele erreichbar sind. Dafür ist die medizinische Fachkompetenz notwendig.
Erst in einem zweiten Schritt wird beurteilt, ob die Behandlungsziele für den Patienten überhaupt erstrebenswert sind und wie sich der Schaden zum Nutzen verhält. So können die fachlich-medizinischen Anteile der Indikation von den normativen unterschieden werden. Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, welche Entscheidung getroffen werden soll. Gerichtsentscheidungen und Stellungnahmen von Ärztekammern und medizinischen Fachgesellschaften betonen, dass der Wille des Patienten Vorrang hat gegenüber der Einschätzung des Arztes, wenn der Patient eine selbstbestimmte Entscheidung trifft. Deswegen muss unbedingt im letzten Schritt geklärt werden, wie der Patient die Möglichkeiten beurteilt. Es ist dabei die Aufgabe des Arztes, dem Patienten die medizinischen Informationen bereitzustellen, die er für eine informierte Entscheidung benötigt.
Die nutzlose Maßnahme
Die Unterscheidung in Nutzen und Wirksamkeit führt auch zu zwei verschiedenen Formen von nutzlosen Maßnahmen: Eine Maßnahme ist im engeren Sinne nutzlos, wenn sie wirkungslos ist, also das Therapieziel nicht erreichen wird. In einem solchen Fall soll und muss der Arzt aufgrund seiner Fachkompetenz dem Patienten die Maßnahme verweigern: Bei einer Virusinfektion hat die Behandlung mit Antibiotika keinen Effekt.
Im weiteren Sinne nutzlos ist eine Maßnahme, wenn keine erstrebenswerten Behandlungsziele mehr erreichbar sind, wenn die Lebensqualität nicht mehr ausreichend sein wird oder wenn der Schaden voraussichtlich größer als der Nutzen sein wird. Die Nutzlosigkeit im weiteren Sinne fragt nach dem Nutzen der Behandlung und erfordert dafür Urteile darüber, welche Einschränkungen der Lebensqualität noch erträglich sind, wann eine Erfolgsaussicht groß genug ist, um ein bestimmtes Risiko einzugehen. Diese Urteile sollte der Patient selber treffen, wenn er dazu in der Lage ist.