Fast die Hälfte aller Befragten wünschte sich bei einer Umfrage auf der Straße spontan „mehr Gelassenheit“. Doch was ist unter diesem Begriff eigentlich zu verstehen? Die Definition ist laut Priv.-Doz. Dr. Volker Busch, Regensburg, gar nicht so einfach. „Gelassenheit ist keine Entspannung“, erklärte der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Ebensowenig ist Entspannung eine conditio sine qua non für Gelassenheit. Denn man kann sich in einer psycho-physiologischen Anspannung befinden und trotzdem gelassen sein. Umgekehrt findet man keine Gelassenheit, indem man zur Ruhe kommt und entspannt. „Um Gelassenheit zu finden, nutzt es nichts, im Wellness-Hotel zu entspannen – zumal die Anspannung mit hin und meist auch wieder mit zurück reist“, so Busch.
Gelassenheit ist eine Haltung
Auch helfe es nicht, einen Gang zurück zu schalten und alles langsamer anzugehen. Denn wer nicht bereit sei, etwas aus seinem Leben zu kürzen, sondern nur langsamer werde, der erfährt laut Busch erst recht Stress – und treibt zudem seine Mitmenschen zum Wahnsinn. Gelassenheit ist auch nicht zu verwechseln mit Besonnenheit oder Coolness. Letzteres ist eine typische Eigenschaft des Pubertierenden. „Coolness ist eine narzisstische Pose und gerade bei Pubertierenden weit weg von Gelassenheit“, verdeutlichte Busch.
„Gelassenheit ist eine Haltung, die viel mit unserem Selbstbezug, unserer Rolle und dem Verständnis unserer Person in der Welt zu tun hat. Diese Haltung bestimmt auch, wie wir den Anforderungen der Außenwelt gegenüber treten“, erläuterte der Referent. Dabei geht es auch um das „lassen“, welches im Wort enthalten ist – allerdings nicht im Sinne materiellen Verzichts. Vielmehr sollte man sich laut Busch die folgenden Fragen stellen: Weswegen mache ich das überhaupt? Basiert mein Tun auf meinem Wertesystem und stellt es tatsächlich einen Wert für mich dar? Oder tue ich vieles, weil Andere das von mir (direkt oder indirekt) fordern? Könnte ich dies dann eventuell weg-lassen?
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Selbstakzeptanz. „Diese Eigenschaft geht heute flächendeckend und sehr schnell verloren“, berichtete Busch aus seiner Erfahrung als Psychotherapeut. Der Grund dafür ist, dass sich in unserer stark vernetzten Welt jeder ständig daran misst, welche Erfolge andere Menschen vorzeigen, was sie können oder erreicht haben.
Narzissmus versus Gelassenheit
Der Narzissmus hingegen ist auf dem Vormarsch. Laut Busch erfüllt in den westlichen Industrienationen inzwischen fast jeder Achte die Kriterien für Narzissmus, die früher als pathologisch eingeordnet wurden. „Narzissten sind keine psychisch stabilen Menschen mit guter Selbstakzeptanz – genau das Gegenteil ist der Fall. Zugleich steht der Narzissmus dem Erreichen der Gelassenheit im Wege“, erklärte der Referent.
Zielorientierung und Glück
Aus dem heute weit verbreiteten Wunsch, alles zu entdecken und zu machen, entsteht eine starke Zielorientierung. In beruflicher Hinsicht kann dies hilfreich und notwendig sein, allerdings wird die Ziel-orientierung oft völlig unreflektiert auch in das Privatleben übertragen. „Wenn Zielorientierung zu einer verabsolutierten Lebensmaxime wird, die sich durch alle Bereiche zieht, gehen Leichtigkeit und Gelassenheit verloren“, verdeutlichte Busch. Ist alles nur noch auf das Ziel ausgerichtet, verliert der Weg dorthin jeglichen Wert. Busch nannte als Beispiel das Bergwandern, welches für manche Menschen ausschließlich den Zweck erfüllt, den Gipfel zu erreichen. Sie übersehen dabei nicht nur die Schönheit der Natur, sondern auch jegliche Freude, die ihnen bereits der Weg zum Gipfel bereiten könnte. „Wir sollten uns an dem Wert orientieren, der das Tun für uns darstellt, nicht so sehr am Ziel“, erinnerte Busch.
Ein weiteres Problem der Zielorientiertheit besteht darin, dass sich nach Erreichen eines Zieles zwar kurzfristig ein Glücksgefühl einstellt, dieses aber nie von langer Dauer ist. Denn das Glücksgefühl ist, wie Busch betonte „hoch adaptiv“– die Glücksschwelle erhöht sich, kurz nachdem wir das Ziel erreicht haben (Abb. 1).
Hängt das Lebensglück davon ab, Ziele zu erreichen, begibt man sich in eine Endlosspirale, auch ,hedonistische Tretmühle‘ genannt. Schon Seneca bemerkte dazu: Was du für den Gipfel hältst, ist eigentlich nur die nächste Stufe! „Ein gelassener Mensch vergegenwärtigt sich dies und jagt nicht jedem Ziel hinterher“, resümierte der Referent.
Zur Gelassenheit trägt auch bei, im Hier und Jetzt zu leben und nicht gedanklich schon einen Schritt weiter zu sein. Ein Beispiel: Anstatt das lang herbeigesehnte Konzert zu genießen, denkt man bereits an den Heimweg und wie man vor dem erwarteten Chaos aus dem Parkhaus kommt. „Dahinter steckt der Wunsch, alles zu kontrollieren und effizient zu gestalten. Doch dieses Bestreben geht auf Kosten der Gelassenheit“, so Busch.
Werte statt Ziele
Ziele sind wichtige Motivationsgeber. „Doch für ein länger andauerndes Glück und um eine gewisse Gelassenheit zu erreichen sind Werte viel ausschlaggebender als Ziele“, erklärte der Referent. Während sich Ziele immer aus einem Defizit ergeben – zwischen Jetzt-Zustand und Ziel – vermitteln Werte sowohl Richtung als auch Orientierung. Sich darauf zu besinnen, was einem wirklich wichtig ist im Leben und welche Richtung man einschlagen möchte, führt laut Busch zu Gelassenheit. Häufig jedoch verfolge man Ziele, ohne sich zu überlegen, ob diese einen in die gewünschte Richtung bringen.
So sollte man etwa sein Arbeitspensum reduzieren, wenn einem klar wird, dass sich zwar die Umgebung mehr Arbeitskraft wünscht, dies jedoch nicht der eigenen Richtung oder der eigenen Wertvorstellung entspricht. „Gelassenheit findet nur derjenige, der bereit ist, sich selbst zu akzeptieren, und nur dann, wenn er zufrieden ist mit der Weise, wie er lebt“, konstatierte Busch.
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