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Praxis Wissen“Ich weiß nicht mehr, was tun…”

Viele Migranten erhoffen sich in Deutschland eine bessere Zukunft. Die Realität trifft sie aber oft hart. Was das bei gesundheitlichen Problemen bedeutet, verdeutlicht die Reportage von Hanno Klemm, Leiter der Malteser Migranten Medizin Berlin.

Francesco (35) und Francesca (34) sind seit ein paar Monaten bei uns Patienten. So wie die beiden vor mir im Sprechzimmer der Malteser Migranten Medizin (MMM) in Berlin sitzen, könnte man meinen, dass Sie ihr Schicksal meistern, dass sie es sogar gut meistern. Man sieht ihnen jedenfalls auf den ersten Blick nicht an, durch welche Höhen und Tiefen sie bereits gegangen sind. Francesco und Francesca sind Roma, und wie viele der Menschen, denen wir in unserer Sprechstunde begegnen, teilen sie bei all der Verschieden- heit ihrer individuellen Schick-sale, ihrer Herkunft und ihres medizinischen Anliegens eine tragische Gemeinsamkeit: Beide haben trotz der Schwere ihrer Erkrankung keinen Zugang zu einer regulären medizinischen Versorgung.

Es ist schwierig zu schätzen, wie viele Menschen tatsächlich in Deutschland leben, die aktuell über keinen Zugang zum Krankenversicherungssystem verfügen. Gemessen an den Behandlungszahlen der letzten Jahre dürften es in Berlin mehrere Tausend sein, die aus Armut keinen Arzt aufsuchen können.

Während ich Francesca den Blutdruck messe, blickt Francesco sorgenvoll drein. Die beiden Eheleute erwarten ein Kind, doch Francesca muss Medikamente nehmen, da sie vor einem Jahr einen Vorderwandinfarkt erlitten hat, der in einem Straßburger Krankenhaus behandelt wurde. Nach erfolgreicher Koronarintervention mit Einlage eines Stents hatte sich das Paar, auf der Grundlage der Bewegungsfreizügigkeit für EU-Bürger, entschieden, nach Berlin zu gehen. Sie erhofften sich hier eine bessere Zukunft. Doch die Träume, die Illusionen, die sie sich gemacht haben, sind angesichts der restriktiven Haltung der Behörden wie Seifenblasen geplatzt.

Francesca steht weder Arbeitslosengeld noch Sozialhilfe und damit auch keine Krankenversicherung zu. Da das Paar obdachlos ist und auch über keine finanziellen Mittel verfügt, kommt auch keine freiwillige Versicherung in einer gesetzlichen Krankenversicherung in Betracht. Und dies bedeutet, dass Francesca ihre lebenswichtigen Medikamente, ASS, Clopidogrel, Simvastatin und Ramipril nicht bekommen würde (von regelmäßigen Check Ups, DMP-Untersuchungen etc. einmal ganz zu schweigen), würde die MMM ihr die Medikamente nicht zur Verfügung stellen.

Die Hilflosigkeit ist groß

"Ich weiß nicht mehr, was tun…", stammelt Francesco, die Augen gerötet. Wir unterhalten uns, mal auf Französisch, mal auf Spanisch, eine Kommunikation auf Deutsch ist nicht möglich, beide können nicht einmal schreiben und lesen. Ich versuche ihnen zu erklären, welche Risiken mit der medizinischen Behandlung einhergehen, wenn Francesca ihre Medikamente nicht mehr nimmt, dass dann die Wahrscheinlichkeit eines Re-Infarktes sprunghaft steigen würde, dass aber umgekehrt bei einer Einnahme der Medikamente, das Kind zu Schaden kommen kann. Und gerade im Fall von Francesca wäre eine Anbindung an ein Fachzentrum zur Betreuung von Risikoschwangerschaften notwendig. Aber auch hier gilt: Ohne Krankenversicherung, ohne den Anspruch auf Sozialleistungen (oder wie in anderen Fällen ohne Aufenthaltserlaubnis oder Duldung aus humanitären Gründen) kein Zugang zur lebensnotwendigen Versorgung.

Überlebenswichtige Unterstützung

Die MMM, die nun vor fast 15 Jahren als Projekt des Malteser Hilfsdienstes ins Leben gerufen worden ist, wurde auch deshalb gegründet, um zu ermöglichen, dass Schwangere mit irregulärem Aufenthaltsstatus ohne Krankenversicherung eine Anlaufstelle, ja medizinische Obhut finden konnten. Die MMM wurde aber auch gegründet, damit Schwangere aus Angst vor Abschiebung nicht mehr heimlich gebären müssen, eingepfercht in Wohnungen mit zig anderen Leidensgenossen, unter Brücken und Parkanlagen. Deswegen bietet die MMM Berlin in ihren Räumen an zwei Tagen der Woche eine gynäkologische Sprechstunde an. Hier werden neben gynäkologischen Akutproblemen auch die Vorsorgeuntersuchungen für schwangere Frauen ohne Versicherungsschutz durchgeführt. Es sind einige Telefonate nötig.

Francesca und Francesco schauen fast schon ein wenig amüsiert drein, während ich versuche, mit meinem wichtigsten medizinischem Instrument, dem Telefon, das vor mir unaufhörlich aufblinkt und leuchtet, eine Schneise durch den Behörden- und Paragrafendschungel zu schlagen. Nicht nur, dass die beiden keinen Cent Geld haben, es mangelt auch an Kleidern, wie sie mir schildern, manchmal sogar an Nahrung und nun, da der Winter naht, am Allerwichtigsten: einem Dach über dem Kopf. Francesca und Francesco leben auf der Straße. Um das Gröbste abzufangen vermittele ich ihnen einen Kontakt zur Suppenküche und der Kleiderkammer, die der Malteser Hilfsdienst e.V. in Berlin betreibt.

Neben einem Team aus rund 20 Ärzten besteht die MMM in Berlin aus einem starken Sprechstunden-Helferteam, das das Herz des Hilfsprojektes ist. Nur durch ihr ehrenamtliches Engagement, ihre beherzte und anpackende Herangehensweise kann der hohe Andrang, der hier manchmal herrscht, koordiniert werden. Für Francesca bedeutet dies, dass sie nun in regelmäßigen Abständen von einem Allgemeinarzt und Gynäkologen gesehen wird, die sich bezüglich des weiteren Prozederes miteinander abstimmen. Francesca hat sich dafür entschieden, das Kind auszutragen. Wir müssen also nicht nur die Risiken der Medikamenteneinnahme während der Schwangerschaft beratschlagen, sondern wir müssen Francesca und ihren Mann auch ausgiebig beraten, wie für sie unter Umständen doch eine Aufnahme in die vertragsärztliche Regelversorgung oder die Übernahme der Kosten durch die Sozialämter möglich ist.

Gegenüber Behörden machtlos

Die Unterstützung durch unsere Sozialarbeiterin ist auch von daher notwendig, da Francesco und Francesca ihre Sorgen und Probleme gegenüber den zuständigen Behörden und Gesetzlichen Krankenversicherern kaum kommunizieren können. Eine Einbindung in das Regelsystem ist aber in ihrem Fall aufgrund der Schwere der Problematik unabdingbar.

Der MMM Berlin kommt hierbei die Aufgabe zu, das Recht der Betroffenen geltend zu machen. Das Tragische wie im Fall von Francesca: Es verstreicht viel Zeit, bis die rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen geregelt sind. Bis dahin sind erhebliche Kraftanstrengungen und persönliches Engagement nötig, weit über das Ausgeben von Medikamenten und das Durchführen von eventuellen Ultraschalluntersuchungen hinaus.

Ich habe für die beiden verschiedene Termine ausgehandelt, beim Gynäkologen, bei der Kleiderkammer, bei unserer Sozialarbeiterin, etc…. Ich weiß, dass Francesco jetzt, da der Winter naht, mit dem Gedanken spielt, mit Francesca zurück nach Rumänien zu gehen. "Dort ist der Winter wärmer". Mich fröstelt’s bei dem Gedanken. Was wird mit Francesca geschehen? Wie wird sie ohne Medikamente überleben? Wer sorgt sich um ihr Kind? Wieder sitzen wir da und beratschlagen. Francesco sagt, in Rumänien hätten sie zumindest Obdach. Und die medizinische Versorgung, die so wichtigen Medikamente, die Schwangerenbegleitung? Beide zucken auf meine Fragen nur mit den Schultern.

Mit Mühe ringe ich ihnen ab, wenigstens noch einmal am Ende der Woche vorbeizukommen. Ein paar Tage Zeit im Kampf für die beiden.

Malteser Migranten Medizin

In der Malteser Migranten Medizin (MMM) finden Menschen ohne Krankenversicherung einen ehrenamtlichen Arzt, der die Erst- und Notfallversorgung bei plötzlicher Erkrankung, Verletzung oder einer Schwangerschaft übernimmt. Die Patienten verfügen entweder über keinen legalen Aufenthaltsstatus und wollen anonym bleiben oder sind aus anderen Gründen nicht (mehr) versichert. Bundesweit gibt es die MMM in 16 Städten. Seit der Gründung 2001 wurde mehr als 100.000 Menschen geholfen. 1.400 Kinder erblickten das Licht der Welt. Häufige Gründe, die Anlaufstellen aufzusuchen, sind Schwangerschaft, Unfallfolgen, akute Zahnerkrankungen, Tumorerkrankungen sowie Infektionskrankheiten. Patienten sind im Schnitt deutlich schwerer erkrankt als in einer normalen Arztpraxis. Die Hilfe wird allein aus Spenden finanziert. Dank der Hilfe von Fachärzten und Kliniken sind Behandlungen oft ohne Bezahlung oder gegen geringeres Entgelt möglich.

Mehr unter: www.malteser-migranten-medizin.de

Spendenkonto

  • Malteser Hilfsdienst e.V.

  • Pax Bank

  • IBAN: DE10370601201201200012

  • Stichwort: Migranten Medizin MMM

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