„Am schlimmsten waren die Schmerzen und die zunehmende Hoffnungslosigkeit“, erinnert sich Wolfgang Rangger. Dem Oberösterreicher musste 2007 aufgrund einer Thrombose im Fuß der rechte Unterschenkel knapp unterhalb des Kniegelenks amputiert werden. Trotz intensiver Therapien in mehreren Reha-Einrichtungen machten ihm Phantomschmerzen das Leben zur Hölle. Die Pein war schließlich so groß, dass Rangger nur noch zwei bis drei Stunden täglich Schlaf fand; zuletzt erhielt er intravenös Opiate, damit er den Schmerz ertragen konnte. Trotz Versorgung mit einer herkömmlichen Standard-Prothese war er also weitgehend immobil und arbeitsunfähig.
Heute ist der 54-Jährige komplett schmerzfrei. Und nicht nur das: Er kann sogar Treppen steigen, ohne sich am Geländer festzuhalten, Radfahren oder Klettern – für einen Beinamputierten normalerweise unlösbare Aufgaben. Möglich macht dies eine in Österreich entwickelte Weltneuheit, die nun in Wien der Öffentlichkeit präsentiert wurde: eine fühlende Beinprothese. Sie versorgt das Gehirn des Patienten wie ein gesunder Fuß mit sensorischen Informationen von der Fußsohle. So etwa spürt er, ob der Boden eben, uneben oder geneigt ist und ob er auf ein Hindernis tritt.
Der Patient empfindet die Prothese nicht als gefühllosen Aufsatz, sondern als Teil seines Körpers. Damit wird aber nicht nur Radfahren möglich und die Sturzgefahr beim Gehen reduziert – auch Phantomschmerzen verschwinden. „Es ist wie ein zweites Leben: Ich kann den Unterschied zwischen Beton und Gras wieder spüren“, sagt Rangger: „Jetzt bin ich wieder mobil und komme ganz ohne Schmerztherapie aus. Mein nächstes Ziel ist es, wieder eine Arbeit zu finden.“
Druck, Vibration, Elektrosignal
Vor acht Jahren kam das Department für Medizintechnik an der Linzer Fakultät der Fachhochschule Oberösterreich mit der ersten fühlenden Armprothese international in die Schlagzeilen. Vor zwei Jahren startete das Team um DI Dr. Hubert Egger das neue Projekt „Fühlende Beinprothese“. Als Ausgangsbasis diente ein am Markt erhältlicher High-Tech-Prothesenfuß. Dieser verfügt über ein autoadaptives Gelenk, das von einem Mikroprozessor gesteuert wird, und eine Karbonsohle, die wie eine Feder wirkt und zu einem weitgehend natürlichen Gangbild führt.
Die Forscher statteten den Prothesenfuß mit sechs Drucksensoren im Fersen-, Mittel- und Vorfuß sowie im Zehenbereich aus. „Sobald der Patient mit der Sohle den Boden berührt, nehmen die Sensoren die Druckbewegung auf“, erläutert Egger. Die entstehenden elektrischen Signale werden an den Schaft der Prothese geleitet und bringen dort Stimulatoren – die aus Smartphones stammen – zum Vibrieren. Natürliche Rezeptoren im Amputationsstumpf nehmen die Vibrationen wahr und wandeln sie in elektrische Signale um, die über sensorische Nerven zum Gehirn geleitet werden. „Die elektrischen Signale sind reale Informationen aus der Umwelt“, betont Egger.
Dafür muss der Amputationsstumpf aber operiert werden. Normalerweise werden bei Amputationen die Nervenenden proximal abgetrennt, damit das druckempfindliche Nervenende tief im Weichteilgewebe liegt. Für die fühlende Beinprothese wird das Gegenteil gemacht: die Nervenenden werden reaktiviert – das heißt Targeted Sensory Reinnervation (TSR). Dabei werden abgetrennte sensorische Nervenreste in Hautareale des Amputationsstumpfes geleitet, so dass Verbindungen mit den dort befindlichen natürlichen Rezeptoren entstehen. Bei Rangger wurden Verbindungen zu sechs Stellen des Stumpfes hergestellt – genau dort, wo sich die Stimulatoren der Prothese befinden.
Hirn macht sich "Bild" der Sohle
Das Gehirn lernt sehr schnell, die Vibrationen der Prothese mit der Fußsohle in Verbindung zu bringen. „Am Anfang konnte mein Gehirn noch nicht viel mit den Signalen anfangen, doch bald spürte ich den Boden unter meiner Prothese, als ob es sich um meine eigene Fußsohle handeln würde“, erzählt Rangger, der im Oktober 2014 operiert wurde. Wenn man heute die entsprechende Stelle seines Amputationsstumpfes berührt, hat er den Eindruck, man berühre seine Ferse oder seinen Fußballen. „Wir gehen davon aus, dass sich im Gehirn eine neue Repräsentation der Fußsohle ausbildet“, erklärt Dr. Eva Maria Baur, Medizinische Uni Innsbruck, die ihn operiert hat.
Für die Lebensqualität des Patienten noch wichtiger als Mobilität ist die Schmerzfreiheit. Auch die verdankt Rangger seiner neuen Prothese. Zwar wurde mit der TRS auch das übliche Verfahren gegen neuromische Schmerzen angewandt – nämlich die Verbindung vernarbter, schmerzender Nervenenden mit anderen Nerven –, doch das Hauptproblem waren die Phantomschmerzen.
„Nach Amputationen sind die im Körper verbleibenden Nervenreste intakt, bekommen aber keine Informationen mehr“, sagt Egger: „Man glaubt, dass Phantomschmerzen dadurch entstehen, dass das Gehirn das Fehlen der sensorischen Information in der kortikalen Repräsentanz der fehlenden Gliedmaße überkompensiert. Es wird immer empfindlicher, weil es die Informationen sucht, aber nicht findet.“ Egger vergleicht es mit einem Radio: Wenn im Tunnel kein Sender empfangen werden kann, sucht das Gerät immer intensiver nach einem Signal, bis das typische Rauschen entsteht. Im Gehirn manifestieren sich derartige autonom generierte Signale als Phantomschmerzen. Weil der Patient dank der fühlenden Prothese wieder Informationen von seinem Fuß erhält, muss das Hirn nicht mehr überkompensieren. „Meine Schmerzen waren vom ersten Tag an wie weggeblasen“, ezählt Rangger.
Die Prothese ist noch ein Prototyp. Geht es nach dem Entwickler, sollte sich das bald ändern. „Der Standard in der Prothesenversorgung von Menschen mit Amputationen hinkt hinterher. Nur wenige können sich eine High-tech-Versorgung leisten“, weiß Egger. Daher stellt das Team sein Know-How der Industrie frei zur Verfügung. Sie haben bei der Entwicklung auch darauf geachtet, möglichst kostengünstige Teile zu verwenden wie die Smartphone-Vibrationselemente. Bis sich ein Produzent findet, kann es dauern: Die von Egger 2007 entwickelte gedankengesteuerte Armprothese hat die US-amerikanische Behörde FDA erst 2014 zugelassen.