Praxis WissenDer Transparenz-Effekt

Eine Studie zeigt: Wenn Patienten ihre Akte einsehen können, schätzen sie ihren Arzt um so mehr. Doch das OpenNotes-Projekt ist umstritten.

Schwierige Patienten, Missverständnisse, mangelnde Adherence. Die Liste ist lang, will man alltägliche Kommunikationsprobleme und ihre Folgen in der Praxis benennen. Nun hat Prof. Tobias Esch von der Uni Witten/ Herdecke als Teil einer Forschungsgruppe der Harvard University (Boston, USA) rund um Prof. Tom Delbanco einen Hebel, gefunden, viele solcher Probleme auf einen Streich zu lösen – und zwar durch die vollständige Öffnung der Akten für die Patienten. Der Name des Projektes: OpenNotes.

Von insgesamt 120.000 Patienten, die von ihren Ärzten für zwei Jahre eine gesicherte Online-Verbindung zu ihrer Patientenakte erhielten, interviewten Esch und Team (nach zunächst qualitativer und quantitativer Auswertung von Fragebögen) 199 "eher kränkere" Patienten. "Wir haben sie gefragt, welche Determinanten des Verfahrens sie als hilfreich und medizinisch wirksam einstuften", sagt Esch. Letztlich genügten 13 Interviews, um ein stabiles Ergebnis zu erhalten. Denn sobald sich Angaben von verschiedenen Patienten zu einem Thema wiederholen, war der Sättigungspunkt erreicht, so Esch.

Vor allem hatten Patienten durch die Akteneinsicht das hilfreiche Gefühl, ihren Arzt verstanden zu haben. "Das klingt banal", sagt Esch. Aber man wisse, dass sonst die Hälfte der Patienten beim Verlassen des Sprechzimmers ihren Arzt eben nicht genau verstanden hätten. Zudem stärke die erhöhte Transparenz in der Behandlung die Mitarbeit und das Selbstmanagement der Patienten, verbessere das Verständnis der medizinischen Probleme und unterstütze die Selbstfürsorge, hieß es. Vor allem aber habe die Vollinformation das Verhältnis zum Arzt verbessert. "Die Patienten haben die Wertschätzung für den Arzt deutlich nach oben gefahren." Sie fühlten sich offenbar mit ihm verbunden. "Das war für uns überraschend", sagt Esch.

Alle Patienten haben zudem mindestens einen sachlichen Fehler in ihrer Akte entdeckt, oft im Hinblick auf die Medikamenten-Einnahme, "also medizinisch relevante Fehler".

Anfangs waren die Ärzte misstrauisch, am Schluss aber überzeugt, so Esch. "Schließlich haben 100 Prozent der Ärzte, die bei der Studie mitgemacht haben, das Verfahren nach Ablauf der Studienphase beibehalten."

Der vermeintliche Machtverlust, alle Daten herzugeben und die befürchteten Anrufe, Mails und langen Patientengespräche zur Akte haben sich als falsche Befürchtung herausgestellt. "Die Arbeitsbelastung hat sich für die Ärzte praktisch nicht erhöht."

Gert Kowarowsky, Psychotherapeut und Spezialist für Patienteninteraktion, zweifelt am OpenNotes-Effekt. "Die Stichprobe an Interviews ist zu klein", kritisiert er. "Im Übrigen: Welche Patienten verfügen über das Wissen, eine Patientenakte zu verstehen?" Letztlich gehe es im Behandlungsgeschehen um die "Arzt-Patienten-Allianz" und für sie sei der Kontakt von Mensch zu Mensch "die unabdingbare Voraussetzung." Wäre es nicht besser, meint der Therapeut, "wenn wir uns fünf Minuten mehr Zeit nehmen für den Patienten?"

Esch indessen will OpenNotes auch in Deutschland starten. Das wird schwierig – weil OpenNotes ein hierzulande umstrittenes Projekt voraussetzt: die elektronische Patientenakte.

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