Der Fall in Kürze
Bei einer Zufälligkeitsprüfung (3. Quartal 2010 bis 2. Quartal 2011) fällt eine Gemeinschaftspraxis auf: Sie hat die ärztliche Leistung bei der EBM-Ziffer 01415 (dringende Besuche im Seniorenheim) überschritten. Die drei Ärzte begründen dies mit einer Praxisbesonderheit: Sie versorgten 680 Prozent mehr Pflegepatienten als die anderen örtlichen Praxen (Erster Serienteil in Der Hausarzt 12).
Am 15. Juli 2014 setzt die Prüfstelle in Niedersachsen die schriftliche Beratung der hausärztlichen Gemeinschaftspraxis fest. Anlass dazu gab die Überschreitung bei der EBM-Ziffer 01415, die bei einer Zufälligkeitsprüfung vom dritten Quartal 2010 bis zum zweiten Quartal 2011 auffiel. Warum der Prüfzeitraum mitten im Jahr begann und kein Kalenderjahr gewählt wurde, teilte weder die Kassenärztliche Vereinigung noch die Prüfstelle mit.
Die Prüfstelle führte aus: Nach ihrem Ermessen habe sie sich für die Prüfung nach arithmetischen Durchschnittswerten entschieden.
Dem BSG zufolge stelle die statistische Vergleichsprüfung die Regelprüfmethode dar (ständige Rechtsprechung BSG SoZR4-2500, Paragraf 106, Nr. 4Rn). Die Abrechnungswerte der Praxis seien mit denjenigen der Fachgruppe oder mit denen einer nach verfeinerten Kriterien gebildeten engeren Vergleichsgruppe im selben Quartal verglichen worden. Ergänzt durch die sogenannte intellektuelle Betrachtung, bei der medizinisch-ärztliche Gesichtspunkte berücksichtigt würden, sei dies die Methode die typischerweise die umfassendsten Ergebnisse bringe (BSG, AZ.: B 6Ka 39/04R vom 27.4.2005).
Des Weiteren seien bei Arznei- und Heilmitteln keine relevanten Überschreitungen zu verzeichnen, so die Prüfstelle. Trotz der festgestellten Unwirtschaftlichkeit im Honorarbereich sei also keine Kürzung festzusetzen, sondern eine Beratung vorzuziehen.
Hierzu sei angemerkt: Dieser Prüfansatz ist nach meiner Auffassung rechtlich und tatsächlich zweifelhaft, weil die zitierten Urteile zur Wirtschaftlichkeitskontrolle bei Überschreitung von Durchschnittswerten und Regelleistungsvolumina ergangen sind. Im vorliegenden Fall handelt es sich aber um eine auf den Einzelfall zu beziehende Zufälligkeitsprüfung, bei der statistische Verfahren nur Suchvorgänge begründen können, mit denen die Prüfung des Einzelfalls eingeleitet wird. Genau diese hat die Prüfstelle aber nicht vorgenommen – und so die Praxisbesonderheit nicht bemerkt, willkürlich die Beweislast umgekehrt und der Praxis auferlegt. Auch in der Literatur werden grundsätzliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit von statistisch begründeten Prüfmaßnahmen im Zusammenhang mit der Wirtschaftlichkeitskontrolle nach dem Wirtschaftlichkeitsprinzip geäußert.
30. Juli 2014: Gegen die Beratung legt die Gemeinschaftspraxis Widerspruch ein. Die Ärzte begründen dies damit, dass der Bescheid der Prüfstelle die Berufsfreiheit der Ärzte unzulässig einschränkt. Die Hausbesuche nach 01415 EBM hätten Pflegeeinrichtungen angefordert und seien aufgrund der Erkrankung am gleichen Tag ausgeführt worden.
Begründung nicht nachzuvollziehen
Der Bescheid begründe nicht nachvollziehbar, warum ein überdurchschnittlicher Anteil an Heimpatienten keine Praxisbesonderheit darstelle, so die Ärzte. Auch würdige der Bescheid nicht den Anspruch von Patienten nach Paragraf 27ff SGB V, wonach auch Heimbewohner dringende – noch am Tag der Bestellung – erforderliche Hausbesuche anfordern dürfen, zu deren Ausführung Vertragsärzte verpflichtet sind. Die 01415 sei dann bei jedem Besuch abzurechnen. Für diese seien weder Höchstgrenzen, Höchstwerte noch Richtwerte festgesetzt oder rechtens.
Aus Sicht der Ärzte dürfe diese Ziffer nicht mit anderen EBM-Ziffern gleichgesetzt werden, bei deren Indikation der Arzt einen Ermessensspielraum hat. So werde etwa bei der Antragspsychotherapie in Anlage V der Prüfvereinbarung zwischen Probesitzungen und genehmigten Antragssitzungen, die aus der Wirtschaftlichkeitsprüfung ausgenommen werden müssten, differenziert. Analog müsse dies für dringende Hausbesuche und pauschalierte Regelbesuche gelten, argumentieren die Allgemeinmediziner. Für Hausbesuche bei Heimbewohnern gebe es zudem keine einschränkenden Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses.
Es könne daher kein Zweifel daran bestehen, dass Vertragsärzte verpflichtet seien, diese Besuche auszuführen – solange nicht erwiesen sei, dass sie nicht notwendig sind. Der Arzt sei verpflichtet, dem Patienten die aktuell nötige und keinen Aufschub duldende Hilfe zu leisten und dürfe sich dieser Garantenstellung nicht entziehen. Auch müsse er sich ein eigenes Bild machen, da Ferndiagnosen aufgrund mündlicher Berichte in den seltensten Fällen ausreichten.
Überdies sei die Feststellung der unwirtschaftlichen Abrechnung rechtsfehlerhaft, weil die Prüfstelle von ihrem Ermessen nicht pflichtgemäß Gebrauch gemacht habe, schreiben die Ärzte. Es sei eine Vergleichsgruppe konstruiert worden, die sich aus Ärzten zusammensetze, die einen Besuch im Altenheim dringend ausgeführt und abgerechnet hätten. Es sei aber zu beachten, dass kaum ein Sektor der ambulanten Versorgung mehr variiere als die Versorgung von Senioren in Heimen.
Die Streuung beim dringenden Besuch sei deshalb so hoch, weil sich Hausärzte stark unterschiedlich am Notfalldienst und an der Versorgung zur Unzeit beteiligten. Daher rechneten viele Ärzte die Ziffer 01415 selten und wenige diese relativ häufig ab, wenn sie das Vertrauen der Patienten und Pflegekräfte gewonnen haben.
Ein weiterer Grund für die Streuung: Die geriatrische Notfallkompetenz fällt bei Hausärzten sehr unterschiedlich aus. Es sei daher nicht vertretbar die Ziffer 01415, die ohne Ermessen des Arztes durch Bestellung des Hausbesuches veranlasst werde, ebenso zu behandeln wie die anderen Ziffern, die wenigstens zum Teil in ihrer Frequenz vom ärztlichen Ermessen beeinflusst seien. Aus Sicht der Ärzte ist die Prüfstelle verpflichtet, die Versorgungssituation mit einem verfeinerten Vergleichsmaßstab zu analysieren: Statt eine Vergleichsgruppe mit Ärzten zu bilden, die überhaupt die Ziffer 01415 abgerechnet haben, seien zusätzlich Untergruppen zu betrachten, die die Heimversorgung durch Gemeinschaftspraxen verglichen mit Einzelpraxen abbildet. Denn, so die Argumentation der Ärzte, im Prüfzeitraum seien drei Ärzte in der Praxis tätig gewesen. Da sie als Gemeinschaftspraxis flexibler reagieren konnten als eine Einzelpraxis, hätten sie noch Heimpatienten eines Kollegen übernommen, der angekündigt hatte, seine Praxis zu schließen.
Besuche werden weiter steigen
Inzwischen seien vier Ärzte in der Praxis tätig und es habe eine weitere Pflegeeinrichtung in der Nähe eröffnet, wodurch sich der Anteil der Patienten und der dringenden Besuche noch weiter erhöhen werde. Daher sei man darauf angewiesen, dass die Prüfgremien dies zur Sicherstellung der Versorgung anerkennen, so die Ärzte.
Faktisch hat der „Beratungsinhalt“ der Prüfstelle die Versorgung der Heimbewohner im Einzugsbereich der Praxis gefährdet. Nur der Widerspruch der Gemeinschaftspraxis – und der Beschwerdeausschuss – können eine drohende Störung der Versorgung dann verhindern. Der Fall zeigt, dass die Wirtschaftlichkeitskontrolle nach Paragraf 106 SGB V Schadenpotenzial zu Lasten der Patienten haben kann.
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