Forum PolitikRegress: Prüfstelle darf nicht pauschal ablehnen

Ärzte einer diabetolgischen Schwerpunktpraxis haben ihre Arzneimittel-Richtgröße überschritten. Sie begründen dies mit einer Praxisbesonderheit. Gegen den Bescheid der Prüfstelle wehren sie sich vor Gericht – und gewinnen. Entscheidend ist dabei, wie das Prüfgremium zu seiner Feststellung gelangt ist.

Prüfstellen müssten detailliert belegen, warum sie die Darlegung von Ärzten gegen einen Bescheid ablehnen. Es reiche nicht aus, pauschal festzustellen, dass Ärzte die Anforderungen mit ihrer Darlegung nicht erfüllt haben. Das hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) mit seinem Urteil am 15. April 2015 deutlich gemacht, dessen schriftliche Begründung nun dem „Hausarzt“-Autoren vorliegt (Az.: L 11 KA 116/13).

Das LSG wies damit die von den Prüfgremien in NRW eingelegte Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf zurück (S 2 KA 205/13, 27.11.2013). Das Sozialgericht hatte der klagenden Gemeinschaftspraxis Recht gegeben, die sich gegen eine schriftliche Beratung, aufgrund einer Überschreitung der Arzneimittelrichtgrößen in 2010, gewehrt hatte. Dies wollte die Prüfstelle nicht akzeptieren und legte daher Berufung ein. Nun muss sie die Kosten für das Verfahren tragen, Revision ließ das LSG nicht zu.

Der konkrete Fall

Die hausärztlich tätigen Internisten Drs. N. und T. führen eine Praxis mit Schwerpunkt Diabetes, vor allem Disease-Management-Programme (DMP; Diabetestypen I und II). ür 2010 teilt die Prüfstelle den Ärzten mit, es werde ein Prüfverfahren eingeleitet, da die Arzneimittel-Richtgrößen-Summe überschritten worden sei.

In ihrem Schreiben (17. Juli 2012) begründet die klagende Praxis dies mit einer Praxisbesonderheit. Seit 1. April 2003 betreibe sie eine Diabetes-Schwerpunktpraxis mit ständig wachsender Patientenzahl. Bis zum vierten Quartal 2010 habe sie insgesamt 1.593 Patienten betreut, davon 1.401 Diabetiker. Diese seien in 73 Prozent der Fälle zu ihr überwiesen worden.

Die Vertragsärztin Dr. N. sei Ausbilderin der Kassenärztlichen Vereinigung und der Ärztekammer (u. a. im DMP) und erhalte – auch aufgrund ihres Adipositas-Schwerpunktes – Überweisungen von circa 250 Ärzten aus einem Umkreis von mehr als 150 km. Ihr Behandlungsschwerpunkt sei die Therapie mit oralen Antidiabetika. Ein Großteil ihrer Patinten habe einen BMI über 30 kg/m 2 bis weit über 40 kg/m 2 und werde ihr mit dem Zielauftrag zugewiesen, eine Insulin-Therapie zu vermeiden oder zu beenden, da die Patienten darunter stark zugenommen hätten.

Eine weitere Spezialisierung der Praxis sei die Betreuung von 350 Typ I-Diabetikern. Im Verhältnis zu den schwerpunktmäßig insulintherapierenden Praxen bestehe sicherlich kein Unterschied in der absoluten Menge des ausgegebenen Budgets pro Diabetesfall. Die Praxis beantrage daher eine individuelle Richtgröße und biete auch gerne eine Einzelfallprüfung ihrer kostenintensiven Patienten an. Sie beantrage, die Mehrkosten für orale Antidiabetika anzuerkennen, die durch die Praxis im Prüfzeitraum verordnet worden seien.

Diese Argumentation akzeptiert die Prüfstelle nicht: Bei der Festlegung der Richtgrößen-Volumina dürfe die Insulintherapie als Standard zugrunde gelegt werden. Die Praxis habe daher die alternative Diabetestherapie in Bezug auf deren Wirtschaftlichkeit zu verantworten.

Dieser Standpunkt hielt der Überprüfung durch das LSG nicht stand. Das Sozialgericht habe die Prüfstelle zu Recht zur Neubescheidung verpflichtet. Der Bescheid sei nicht rechtmäßig. Eine Beratung bei Überschreitung des Richtgrößen-Volumens um mehr als 25 Prozent komme nur in Betracht, wenn die Überschreitung nicht durch Praxisbesonderheiten begründet sei.

Was ist eine Praxisbesonderheit?

Der Begriff der Praxisbesonderheit sei bei einer Richtgrößen-Prüfung nicht anders zu verstehen als bei einer Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Durchschnittswerten, so die Richter. Praxisbesonderheiten seien aus der Zusammensetzung der Patienten herrührende Umstände, die sich auf das Behandlungsverfahren und -verhalten des Arztes auswirken und in den Praxen der Vergleichsgruppe nicht in entsprechender Weise anzutreffen seien. Die betroffene Praxis müsse sich also hinsichtlich der Zusammensetzung der Patienten und der schwerpunktmäßig zu behandelnden Gesundheitsstörungen vom typischen Zuschnitt einer Praxis der Vergleichsgruppe unterscheiden. Diese Abweichung müsse sich gerade auf die überdurchschnittlich häufig erbrachten Leistungen auswirken.

Eingeschränkte Kontrolle

Soweit es um die Feststellung und Bewertung von Praxisbesonderheiten gehe, stehe den Prüfgremien ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsraum zu. Gerichte könnten lediglich kontrollieren,

  • ob das Verwaltungsverfahren ordnungsgemäß abgelaufen sei,

  • ob der Verwaltungsentscheidung ein richtiger und vollständig ermittelter Sachverhalt zu Grunde liegt,

  • ob die Verwaltung die Grenzen eingehalten hat, die sich bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes „Wirtschaftlichkeit“ ergeben, und

  • ob ihre Subsumtionserwägungen so begründet sind, dass im Rahmen des Möglichen die zutreffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe zu erkennen und nachvollziehen ist.

Die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hält fest: Prüfgremien müssen ihre Ausführungen, ob ie Voraussetzungen für Maßnahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung vorliegen, so verdeutlichen, dass Gerichte zumindest nachvollziehbar erkennen können, ob die Prüfstelle die einschlägigen Beurteilungsmaßstäbe zutreffend angewendet hat.

Diese Anforderungen dürfen zwar nicht überspannt werden, da sich gerade Maßnahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung regelmäßig an einen sachkundigen Personenkreis richten. Jedoch müssen die Ausführungen erkennen lassen, wie die Prüfstelle das Behandlungsverhalten des Arztes bewertet hat und auf welchen Erwägungen die Kürzungsmaßnahme beruht. Die Prüfstelle muss auch angeben, ob und in welchem Umfang der Mehraufwand auf Praxisbesonderheiten zurückzuführen ist.

Diesen Anforderungen des BSG wird der Bescheid der Prüfgremien nicht gerecht, gegen die sich die Klage der diabetologischen Schwerpunktpraxis richtet, erläutert das LSG. Die Argumentation der Ärzte sei in Bezug auf eine diabetologische Praxis in sich schlüssig und substantiiert. Es erscheine daher zumindest als möglich, dass eine Praxisbesonderheit vorliegen kann.

Die Praxis habe geltend gemacht, dass sie schwerpunktmäßig Patienten behandelt, deren Diabetes mellitus schwer einzustellen oder nicht allein mit Metformin zu therapieren ist. Dies unterscheide sie vom typischen Zuschnitt einer Praxis der Vergleichsgruppe. Daher hätte die Prüfstelle ausführlicher darlegen müssen, warum die Praxis unwirtschaftlich gehandelt hat, schreibt das LSG.

Nach ständiger Rechtsprechung obliegt es zwar dem Arzt, atypische Umstände darzulegen und festzustellen, die einen besonderen, höheren Behandlungsaufwand rechtfertigen (zum Beispiel Praxisbesonderheit). Diese Mitwirkungspflicht und Feststellungslast des Arztes berechtigt Prüfgremien aber nicht dazu, sich darauf zu beschränken, pauschal festzustellen, dass der Arzt die Anforderungen nicht erfüllt hat. Vielmehr müssen sich Prüfstellen mit substantiierten Darlegungen des Arztes im Einzelnen auseinandersetzen.

Fazit

Es bedurfte erst eines Obergerichtsurteils, um einer Selbstverständlichkeit bei der Behandlung von Diabetikern eine Rechtsgrundlage zu verschaffen. Der Weg zur rechtmäßigen Behandlung einer Volkskrankheit mit-hilfe eines aufwendigen Gerichtsverfahrens dauerte fünf Jahre. Wann wird endlich der bürokratische Terror gegen Ärzte beendet, die nach den Leitlinien und Richtlinien der Behandlung ihre Pflicht tun?

Kassen und KVen gefährden mit Routine und standardmäßig die ärztliche Therapiefreiheit bei der Behandlung von Diabetikern und anderen Patienten mit einer Volkskrankheit – selbst wenn die Behandlung Leitlinien-konform erfolgt. Auch dies gehört zu den „organisierten Verantwortungslosigkeiten“ (Ferdinand Gerlach) im Gesundheitswesen.

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