Versorgung von Menschen mit BehinderungInklusive Medizin: Im Studium leider nicht inklusive

Die medizinische Versorgung von Menschen mit geistiger oder komplexer Behinderung leidet unter strukturellen Defiziten, kritisiert Dr. Ute Schaaf. Zwei Hausärztinnen geben einen Überblick, was sich ändern muss und worauf es bei der Behandlung ankommt.

In manchen Städten finden die Angehörigen von komplexbehinderten Menschen nicht einmal eine Hausarztpraxis.

Als Dr. Ute Schaaf ihre Hausarztpraxis im mittelfränkischen Absberg vor 18 Jahren übernommen hat, war sie gleichzeitig zuständig für eine große Einrichtung der Eingliederungshilfe mit über 200 Bewohnenden. Deshalb hat sie sich zu diesem Thema aus- und weitergebildet.

Das war auch nötig, denn im Studium fehlte dieser Bereich komplett. Auch ihre Kolleginnen und Kollegen fühlten sich unsicher bei der Betreuung von Menschen mit Behinderung, so ihre Erfahrung.

Bis heute hat sich daran nichts geändert. Die Studierenden, die in ihrer Praxis eine Famulatur oder ein PJ absolvierten, bestätigten ihr, dass das Medizinstudium hier eine Lücke aufweist.

Deshalb hat sich Schaaf des Themas angenommen: Gemeinsam mit ihrer AG Inklusive Medizin im Bayerischen Hausärzteverband (BHÄV) hat sie ein Positionspapier erarbeitet, welche Lehrinhalte hierzu ins Studium aufgenommen werden sollten (siehe Kasten unten).

Individuellen Normalzustand einschätzen

Von welchen Menschen ist überhaupt die Rede, wenn man von geistiger oder komplexer Behinderung redet? “Es handelt sich dabei um Menschen mit angeborenen oder im frühen Kindesalter erworbene Störungen der neuronalen Entwicklung, wie beispielsweise bei der Cerebralparese, dem Fetalen Alkoholsyndrom, oder bei genetischen Erkrankungen wie dem Down-Syndrom. Wir sehen regelhaft auch seltene Krankheitsbilder. Oft wissen wir die Ursache der Beeinträchtigung nicht”, erklärt Schaaf.

Die besondere Herausforderung bei der Betreuung dieser Menschen besteht zunächst darin, eine korrekte Diagnose zu stellen, wenn die Betroffenen selbst sich nicht oder nur eingeschränkt verbal äußern können.

Zu den Krankheitsbildern, die bei Menschen mit komplexer Behinderung leicht übersehen werden, gehören Schmerzzustände jeglicher Art, Frakturen, (Sub-) luxationen, Reflux mit hierdurch bedingten Aspirationspneumonien, schwerwiegende Obstipation, atypische Krampfanfälle, delirante Zustände oder demenzielle Entwicklungen.

Es kommt darauf an, den individuellen Normalzustand zu kennen, um Abweichungen erkennen zu können, betont Schaaf. Das ist nur möglich, indem man sich intensiv mit den Betreuungspersonen austauscht.

Strukturelle Defizite bei der stationären Versorgung

Wer aus der Hausarztpraxis solche Menschen stationär einweisen möchte, stößt auf weitere Hindernisse. Bei Weglauftendenz, Fremdgefährdung oder Kommunikationsproblemen fühlen sich die somatischen Kliniken personell oft nicht in der Lage, eine Betreuung zu gewährleisten. Und die psychiatrischen Kliniken fühlen sich für somatische Krankheitsbilder nicht zuständig.

Aber auch wegen mangelnder Kenntnisse auf diesem Gebiet landen Menschen mit komplexen Behinderungen oft gar nicht in der stationären Versorgung. Diese strukturellen Defizite sind leider auch der traurigen Vergangenheit in Deutschland geschuldet.

“Als ich studiert habe, gab es zwar Kinder, aber aufgrund der Euthanasiepraxis während des NS-Regimes praktisch keine hochaltrigen Menschen mit komplexer Behinderung”, erzählt Schaaf. Daher beschäftigte sich auch in den Universitätsklinken kaum jemand intensiver damit.

Inzwischen gibt es erste “zarte Pflänzlein”: In Bielefeld leitet Prof. Tanja Sappok eine Klinik für Inklusive Medizin im Krankenhaus Mara in Bielefeld-Bethel (Link-Tipp: “Der Hausarzt” hat mit Prof. Tanja Sappok ein Interview geführt: www.hausarzt.link/N7mua). Dort wird gerade ein Curriculum für das Medizinstudium aufgebaut.

Prof. Markus Martin, ein Epileptologe aus Freiburg, bietet ein Wahlfach “Inklusive Medizin” an und in Augsburg gibt es ein Wahlpflichtfach für Inklusive Medizin, das Ute Schaaf für das Institut für Allgemeinmedizin betreut. Im Lernzielkatalog ist es allerdings nicht aufgeführt, so dass immer nur eine Handvoll interessierter Studierender teilnimmt, bedauert Schaaf. In Erlangen und Würzburg bieten jeweils die Institute für Allgemeinmedizin Kurzseminare an.

Manche finden keine Hausarztpraxis

Doch diese Angebote reichen noch lang nicht für die Versorgung in der Fläche: Ein Problem der medizinischen Versorgung von Menschen mit Behinderung besteht etwa darin, dass das Personal der Einrichtungen der Eingliederungshilfe, die bestenfalls behinderten Menschen eine Integration ins normale Leben ermöglichen sollen, keine medizinische, krankenpflegerische Ausbildung haben, sondern eine pädagogische.

Ein weiteres Problem: In manchen Städten finden die Angehörigen von komplexbehinderten Menschen nicht einmal eine Hausarztpraxis. Denn manche Praxen sind von der Ausstattung her nicht ausgelegt für diese Patientengruppe oder können die nötigen Hausbesuche nicht stemmen.

Andere Praxen wiederum haben einen durchgetakteten Terminplan, bei dem maximal zehn Minuten pro Patient zur Verfügung stehen – für einen Menschen mit komplexer Behinderung definitiv zu wenig. Ute Schaaf ist aber der Meinung, dass die Betreuung dieser Menschen sehr gut in einer Hausarztpraxis aufgehoben ist, wo der notwendige Kontakt zu den Bezugspersonen am besten gewährleistet ist.

Auf diesem Gebiet kennt sich Anke Richter-Scheer, Hausärztin in Bad Oeynhausen, gut aus. Sie hat den Kursus Behindertenmedizin absolviert und gehört zu den Referenten für das Curriculum Behindertenmedizin in Westfalen-Lippe.

Sie betreut seit über 15 Jahren weit über 600 Menschen mit Behinderung in ihrer Praxis und hat diese Entscheidung nie bereut. “Menschen mit Behinderung sind oft nicht nachtragend und freuen sich einfach”, so ihre Erfahrung. “Sie wirken trotz ihrer Erkrankung oft unbeschwerter und lachen viel.” Allerdings sei der Umgang mit ihnen häufig eine Herausforderung: Nonverbale Kommunikation spielt etwa eine große Rolle.

Außerdem seien die Beschwerden häufig anders als im Lehrbuch angegeben. Menschen mit Behinderung lassen sich sehr häufig nicht nach Lehrbuch oder Leitlinie behandeln, erklärt die Hausärztin, häufiger muss “Off-Label” therapiert werden. Nicht unterschätzen sollte man beispielsweise pulmonale Infekte oder ein Megacolon als Ursache einer chronischen Obstipation. Eine Epilepsie tritt etwa 40-mal häufiger auf als bei gesunden Menschen und nur jeder Fünfte lässt sich einstellen.

Schmerzen oder Sorgen?

Als sehr wichtig schätzt auch Anke Richter-Scheer die Zusammenarbeit mit Angehörigen und Mitarbeitenden sowie Pflegepersonal ein. Ohne die Einschätzung durch diese engen Bezugspersonen bestünde die Gefahr einer Fehleinschätzung des Krankheitsbilds.

Dass der- oder diejenige Schmerzen hat, falle häufig nur durch verändertes Verhalten auf. Eine Entzündung offenbare sich manchmal erst durch den Laborbefund, dann sind CRP-Werte von weit über 100 keine Seltenheit. Mit der Zeit lerne man, wie geklagte Beschwerden oder Verhaltensweisen gedeutet werden müssen, erklärt Richter-Scheer.

Wenn zum Beispiel ein Mensch mit Behinderung, der im ambulanten Wohnbereich oder in einer Werkstatt lebt, scheinbar Kopfschmerzen äußert, könne es auch sein, dass er mit seinen Mitbewohnenden nicht klarkommt. Werden tatsächlich Schmerzen vermutet, hilft manchmal auch ein Behandlungsversuch.

“Es ist schon erstaunlich, was oft 30 Tropfen Novaminsulfon oder 600 mg Ibuprofen bewirken,” sagt Richter-Scheer. Hilfreich bei der Diagnostik sei auch das ICF-Assessment mit der Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (Grundlage) sowie der Erfassung der individuellen Kompetenzen und Ressourcen. Damit könnten die Betroffenen adäquat unterstützt und gefördert werden.

Wenn man hausärztlich Menschen mit Behinderung betreue, müsse man sich klarmachen, dass diese Personen eine “andere” Lebensqualität haben als gesunde Menschen, betont die Hausärztin. Man müsse versuchen, das Leben aus der Sicht der Betroffenen zu sehen und ihnen alle Unterstützung bieten, derer sie bedürfen.

Dafür ist es wichtig, die sozialrechtlichen und Versorgungsstrukturen zu kennen – was im Medizinstudium gut vermittelt werden könnte. Doch bis die Forderungen aus dem Positionspapier durchgesetzt sind, könnte es noch eine Weile dauern.

Die AG “Inklusive Medizin” bleibt am Ball und tut unterdessen viel dafür, die Universitäten für das Thema zu sensibilisieren, sagt Dr. Ute Schaaf. Ihr Ziel ist es, dass in fünf oder zehn Jahren zumindest Einigkeit darüber besteht, dass das Thema an die Universitäten gehört. Der Stein sei ins Wasser geworfen, jetzt müsse er Kreise ziehen.

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