kurz + knappLeserbriefe

Keine Ausnahme vom Gespräch unter vier Augen

Betreff: „Migranten leiden lieber somatisch als psychisch“, HA 16, 5.10.2015, S. 24

Wesentlichen Teilen des Beitrages von Kollegen Schmidt kann ich zustimmen, wenngleich auch eingesessene Deutsche oft somatogene Symptome in der Hausarztpraxis zur Kaschierung dessen nutzen, dass ihnen der Facharzt für Psychosomatik bzw. Psychiatrie besser helfen könnte. Bürgerkriegsflüchtlinge im engeren Sinne behandelte ich kaum, wohl aber Patienten mit Migrationshintergrund, fast ausschließlich muslimischen Glaubens. Allerdings habe ich auch bei dieser Klientel daran festgehalten, dass das Arzt-Patienten-Verhältnis eine persönliche Angelegenheit ist und mir weniger am Vertrauen von Verwandten und Bekannten des Patienten gelegen ist, wohl aber an der Empathie des Hilfesuchenden. Nur bei Minder-jährigen, bei Patienten mit dringlichem Psychoseverdacht oder bei einem amtlich bestellten Betreuer mit Gesundheitsvollmacht gab es Ausnahmen und selbst dann wurde das „Vier-Augen-Gespräch“ gesucht!

Gleich gar nicht habe ich Unterschiede im Umgang zwischen Mann und Frau gemacht, zum Beispiel bei der Begrüßung oder der Verabschiedung. Dazu möchte ich bemerken, dass fast ausschließlich Frauen von einem „Rattenschwanz“ von Begleitpersonen umgeben waren, Männer kamen allein, wenn nicht Sprachbarrieren einen Dolmetscher erforderten. Sicher ist es gut gemeint, wenn man Religion und Ethnie berücksichtigt, solange es keine Interessenkonflikte gibt und die Integration in Deutschland erschwert wird. Es lässt sich (…) allerdings nicht leugnen, dass es nicht nur, aber besonders in Herkunftsländern mit der „Staatsreligion“ Islam mehr Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und Religionen gibt, als zum Beispiel im katholisch geprägten Bayern.

Alles, was auch nur indirekt einer Ungleichbehandlung von Menschen bzw. Patienten in unserem laizistischen Gemeinwesen das Wort redet, hat zumindest in Arztpraxen und anderen öffentlich zugänglichen Einrichtungen nichts verloren! Damit erweisen wir den Patienten, besonders den weiblichen, den besten Dienst, setzen ein Zeichen für deren volle Gleichberechtigung, fördern die Inklusion und wirken Parallelgesellschaften entgegen und minimieren zumindest im eigenen Bereich Angriffspunkte des antisemitischen Rassismus.

R. Grzegorek, Görlitz

Antwort des Autoren

Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Grzegorek,

herzlichen Dank für Ihre Anmerkungen (…), die ich zum größten Teil teile und sie ergänzen möchte. Auch ich er -lebe öfter (…) bei Deutschen, dass sie (…) bei bestehenden Ängsten gerne die somatische Version eigener Beschwerden in den Mittelpunkt stellen wollen. Die Gründe und die Intensität hierfür sind (…) sehr unterschiedlich. Das Thema Migration und Gesundheit, „Interkulturelle Medizin“, (…) sowie Armut und Gesundheit wird uns zunehmend in der medizinischen Versorgung beschäftigen.

Zudem kommt noch, dass wir Mediziner (…) in der Ausbildung in der Regel für Belange der Mittelschicht sozialisiert werden. Deshalb brauchen wir zunächst (…) ein Bewusstsein für das Thema in der Ausbildung, in der Versorgung, Studien und Forschungen, damit wir ein gewisses einheitliches Hilfsinstrument bei der Anamnese, Diagnose und Therapie entwickeln können. Unser Ziel ist, die Menschen gut zu versorgen und dabei Zeit und Geld zu sparen. Unter dem medizinischen Aspekt gesehen ist die Arzt-Patient-Beziehung und -Kommunikation ein wichtiges therapeutisches Mittel und genau hier brauchen wir mehr Professionalität und Sensibilität. Wenn wir Menschen besser verstehen wollen, brauchen wir auch kulturspezifische Anamnesen.

Der Mensch steht im Mittelpunkt und nicht die Religion oder das Geschlecht, hier bin ich ganz bei Ihnen. Es gilt deshalb, durch ein aktives empathisches Fördern und Fordern zu einer eigenverantwortlichen Mitwirkung zu verhelfen. Denn sonst würden wir gerade Frauen aus patriarchalischen Verhältnissen in ihrer Hilfesuche in resignativ-passiver Haltung allein lassen (…). Ob Sie (…) mit Vier-Augen-Gespräch vorgehen oder wie Sie die Menschen begrüßen, ist eine individuelle situative Entscheidung (…). Wichtig ist zu erfahren, dass diese oder jene Vorgehensweise nicht nur die Compliance beeinflussen kann.

Diese unterschiedlichen Sozialisationen wirken sich auch auf die Betreuungsbedürfnisse und Erwartungen der Patienten in der Arzt-Patienten-Beziehung aus. Wenn der abendländische Patient krank ist, möchte er gerne allein sein und die anderen betrachtet er als soziale Kontrolle, der Patient im Orient steht im Mittelpunkt und damit seine Genesung.

Was das Verhältnis zwischen Staat und Religion oder Geschlechterrolle anbelangt, teile ich als (…) Iraner Ihre Meinung voll (…), will aber (…) Ihre Aussage ergänzen. Wir haben in Deutschland kein laizistisches Gemeinwesen, höchstens einen teilsäkularen Staat. Die Politik macht aus meiner (…) Sicht einen großen Fehler, aus Konzeptlosigkeit, Bequemlichkeit und den Religionen zu Liebe reduziert sie gerne die Menschen auf ihre Religion und erschwert damit die Integration. Das Ergebnis sind parallele Gesellschaften. (…)

Komplexe Sachverhalte gerade für uns Hausärzte benötigen einen ganzheitlichen Ansatz. (…) je nachdem wo man seine Praxis hat, werden Sie feststellen, dass es auch Italiener gibt, die seit 40 Jahren hier leben und kaum Deutsch sprechen können. Ich sehe (…) eine gute Chance, unsere Versorgung strukturell und inhaltlich durch Förderung der interkulturellen Kompetenzen im Studium zeitgemäß und patientengerecht weiterzuentwickeln. Es wäre medizinisch nicht professionell, wenn der Patient sagt, er ist krank, und der Arzt fragt, wo tut es ihnen weh?

Hausärzte sind die wichtigste Säule in der medizinischen Versorgung. Aneinander vorbei reden kostet aber Zeit und viel Geld, weil oft durch fehlende Zeit und interkultu-relle Kompetenzen Verlegen-heitsdiagnosen wie Mama-Mia-Syndrom, türkische Kopfschmerzen usw. gestellt werden. (…)

R. Schmidt, Stromberg

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