Berlin. Die Behandlungsabläufe werden zunehmend komplexer, in vielen Fällen werden einzelne Spezialisten mit der Betreuung von immer mehr multimorbiden Patienten in Deutschland überfordert sein – an der Digitalisierung führt kein Weg vorbei, so G-BA Chef Professor Josef Hecken beim G-BA Rechtssymposium am Freitag (17.6.). Allerdings ist die Digitalisierung auch kein Allheilmittel, das alle Probleme im Deutschen Gesundheitswesen lösen kann, erklärte er.
Bei Betrachtung des In- und Outputs, kritisierte Hecken, schneide das Deutsche Gesundheitswesen „im internationalen Vergleich absolut schlecht ab“: Würde man das Kriterium “Wo gibt es die meisten Linkskathetermessgeräte?” heranziehen, würde Deutschland gut dastehen.
Das plant das Bundesgesundheitsministerium
Aus Sicht des Patienten jedoch sei dies kein Qualitätskriterium. Mit der Digitalisierung würde diese Kultur nicht besser werden. Dennoch unterstrich Hecken bei aller Vorsicht: „Die Digitalisierung kommt nicht aus der Hölle.“
Mit der elektronischen Arbeitsunfähigkeit oder dem elektronischen Rezept soll die Digitalisierung im Gesundheitswesen weiter an Fahrt aufnehmen. Wie sehen hierzu die weiteren Pläne aus? Im Bundesgesundheitsgesundheitsministerium werden derzeit verschiedene Pakete bearbeitet, erklärte Dr. PH Susanne Ozegowski, Leiterin Abteilung 5 Digitalisierung und Innovation im Bundesministerium für Gesundheit.
Beim ersten Paket gehe es darum, das Gesundheitssystem (Stichwort Herbstwelle) pandemiefest zu gestalten. Hier gehe es auch darum, für Datentransparenz zu sorgen. Wichtig sei nicht nur, wie die Zahlen auf den Intensivstationen sich entwickelten, auch die Bettenauslastung auf den normalen Stationen müsse erfasst werden. Im letzten Jahr sei bereits begonnen worden, den öffentlichen Gesundheitsdienst mit besserer Technik und Software auszustatten. 800 Millionen Euro stünden dafür zur Verfügung.
ePA als Drehscheibe für digitale Tools
Ein weiteres Arbeitspaket, so Ozegowski weiter, würden die elektronischen Anwendungen betreffen. Hier stünde „ganz klar die ePA im Vordergrund“. Diese sei die zentrale Drehscheibe, mit der auch andere digitale Tools (e-Rezept, Telemedizin, DiGa) verknüpft würden.
Bis die ePA „als Klappform“ vorhanden sei, seien noch einige Schritte zu gehen, erklärte Ozegowski. Heute gebe es knapp 500.000 ePA, das entspreche einem halben Prozent der Bevölkerung. “Hier ist das opt-out-Verfahren ein ganz wichtiger Hebel.” Wichtig sei auch zu entscheiden, welche Daten standardmäßig immer in die ePA eingepflegt werden sollen.
Das eRezept sei die erste große Massenanwendung, die für Patienten, Ärzte und Apotheker spürbar sei. Stand heute seien über 30.000 Rezepte ausgegeben worden. Die Qualitätskriterien, die für den Rollout erfüllt werden müssten, seien im Spätsommer erfüllt, prognostizierte Ozegowski. Es sei jetzt vereinbart worden, wie der Rollout genau laufen solle.
Sanktionskeule wäre kein guter Weg
In Westfalen-Lippe und Schleswig-Holstein werde freiwillig in Praxen gestartet. Man stehe im engen Austausch mit den KVen. Die Praxen würden beim Rollout begleitet. Immer sei Unterstützung da, um Fragen zu beantworteten, wie etwa die Prozesse umgestellt werden müssten, versprach Ozegowski. „Ich glaube, dass ist ein sehr viel besseres Vorgehen, statt hinter den Ärzten mit der Sanktionskeule zu stehen”. Dabei ermunterte Ozegowski alle, nicht nur diejenigen in den Testregionen, das eRezept jetzt schon auszuprobieren.
Bei den DiGa sei es wichtig, diese bald in die Versorgungsabläufe zu integrieren. Es könne nicht sein, dass hier ein eigener Sektor entstehe. Die DiGa müssen ebenfalls mit der ePA verknüpft werden. Außerdem müssten Ärzte besser informiert werden: Was bringt die jeweilige DiGa dem Patienten, welche Daten werden erhoben?
BMG arbeitet an Digitalisierungsstrategie
Derzeit arbeite das Gesundheitsministerium außerdem an der Ausarbeitung einer Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen. Hier soll die Frage beantwortet werden, wie die ganzen Puzzleteile ineinanderwirken, und welche Akteure und Institutionen dafür benötigt werden? Nach einer ersten Ausarbeitung gehe es daran, die Beteiligten am weiteren Feilen der Strategie zu beteiligten, kündigte Ozegowski an. Im Spätsommer werde es wahrscheinlich so weit sein, dann könne mit der Partizipation gestartet werden.
Professor Ferdinand M. Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) unterstrich ebenfalls, die Digitalisierung müsse Mittel zum Zweck sei. Zentral bei der Digitalisierung sei die elektronische Patientenakte (ePA), im Koalitionsvertrag sei ja die opt-out Lösung auf Empfehlung des SVR aufgenommen worden.
Bei Geburt würde automatisch eine ePA angelegt. Allerdings plädiere der SVR dafür, dass der Patient bestimmte Daten in seiner ePA verschatten könne. Derzeit sei vorgesehen, dass der ePA-Inhaber Daten löschen könne. Dies berge erhebliche Gefahren in sich.
ePA muss zwingend her
Ohne ePA laufe es bisher so, erklärte Gerlach, dass der Patient im besten Fall Überbringer seiner Daten ist (zum Beispiel Einnahme von Blutverdünner, Penicillin-Allergie). Autos könnten bei Fehlern zurückgerufen werden, werde aber beispielsweise ein Medikament wegen krebserregender Verunreinigungen vom Markt genommen, könne der Patient darüber derzeit nicht informiert werden.
Bei der ePA hänge Deutschland im internationalen Vergleich um 15 Jahre hinterher. Es müsse jetzt gehandelt werden.
Susanne Möhring, Referat 13 beim Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit mahnte, sich bei der Einführung der ePA Zeit zu lassen. Nicht der Datenschutz sei derzeit ein Problem, sondern vielmehr der Mangel an modernen technischen Methoden, zum Beispiel für die Anonymisierung von Daten, zur Interoperabilität oder zur Möglichkeit, Daten strukturiert zu erfassen.
Von falschen Versprechen und Datenmüll
Dass die Forschung plötzlich mit der Digitalisierung und der Verfügbarkeit von Patientendaten in Deutschland besser wird, glaubt Professor Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) nicht. Die Forschungsdefizite hätten mit anderen Dingen (Kultur, mangelndes Verständnis) zu tun.
Mit der Digitalisierung seien hohe Erwartungen verknüpft. Würden diese nicht erfüllt, werde Vertrauen verspielt und möglicherweise nur riesige Berge Datenmüll produziert. Dabei warnte Windeler auch davor, dass bestehende, bewährte Instrumente vernachlässigt oder diskreditiert werden könnten.
Digitalisierung nur mit Sinn und Verstand
Fazit der Digitalisierungsexperten: Man kann sich der weiteren Digitalisierung im Gesundheitswesen nicht verschließen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Patientenversorgung und -steuerung in Zukunft nicht mehr gewährleistet werden kann. Allerdings muss die Digitalisierung sinnvoll und überlegt erfolgen.
Digitale Transformation heißt, die Versorgung neu zu denken und dann digital zu unterstützen. Anders gesprochen: Sektorengrenzen lassen sich nicht mit Digitalisierung überwinden, schlechte Prozesse werden mit bloßer Digitalisierung nicht besser.