Weniger verstopfte Notaufnahmen dank mehr stringenter Patientensteuerung: Mit seinem Gutachten hat der Sachverständigenrat jüngst ein Konzept für ein völlig neugestaltetes Gesundheitssystem vorgelegt. Im Exklusiv-Interview spricht Ratsvorsitzender Prof. Ferdinand Gerlach darüber, was die teils drastischen Veränderungen für Hausärzte bedeuten könnten.
72 Einzelmaßnahmen auf über 700 Seiten: Das jüngste Gutachten des Sachverständigenrats ist ein Mammutprojekt. Wo verläuft der rote Faden?
Prof. Ferdinand Gerlach: Wir bekennen uns dazu, dass wir mehr als bislang gewohnt eingreifen müssen. Hintergrund für das Gutachten ist die Tatsache, dass Analysen immer wieder ein Nebeneinander von Über, Unter- und Fehlversorgung in unserem Gesundheitswesen zeigen. Nehmen Sie etwa das Beispiel Rückenschmerz: Einerseits gibt es zu viele Wirbelkörper-Operationen, andererseits eine Unterversorgung etwa bei ambulanter Reha. Gleichzeitig wird es vor allem für Patienten zunehmend schwieriger, sich im komplexen Gesundheitssystem zurechtzufinden. In den Notaufnahmen wird das besonders deutlich: Da sitzen Menschen mit harmlosen Zeckenbissen und verstopfen Kapazitäten für wirklich schwerkranke Patienten. Unser roter Faden, der sich durch das gesamte Gutachten zieht, ist, das wieder in eine Balance zu bringen.
Wie kann das gelingen?
Gerlach: Im Wesentlichen geht es um drei Kerngedanken: eine grundlegende Reform der Notfallversorgung, eine Umstrukturierung der Kliniklandschaft – die übrigens auch für Hausärzte wichtig ist, weil das Zusammenspiel zwischen Kliniken und Praxen künftig wesentlich besser werden muss – und eben die sektorenübergreifende Versorgung. Hausärzte sind dabei für uns sehr wichtige Akteure, und wir benötigen ihre breite Kompetenz, etwa in der Notfallversorgung.
Das Gutachten setzt in hohem Maße auf hausärztliche Kompetenz. Was bedeutet das für Allgemeinmediziner?
Gerlach: Je spezialisierter unser Gesundheitssystem wird – die Medizin zerfällt mittlerweile in 79 Fachgebiete –, umso wichtiger werden Hausärzte als Koordinatoren und Begleiter der Patienten. Dabei müssen wir sie aber auch besonders unterstützen. Hausärzte bekommen dem Gutachten zufolge den Steuerknüppel in die Hand, und sie erhalten die dafür notwendige Finanzierung. So wollen wir etwa die sprechende Medizin fördern – und zwar gezielt im hausärztlichen Kontext.
Das beinhaltet nicht nur das Gespräch, sondern auch Hausbesuche oder die Begleitung multimorbider Patienten. Teamleistungen, etwa der Einsatz von Versorgungsassistentinnen in der Hausarztpraxis (VERAH®), sollen gezielt gestärkt werden, und auch die Hausarztzentrierte Versorgung (HZV) als Vertragsform wird ausgebaut. So empfiehlt der Rat einen von allen Kassen verpflichtend anzubietenden vergünstigten Wahltarif, um die Teilnahme an HZV-Modellen durch finanzielle Anreize zu steigern.
Wie sieht diese starke Rolle des Hausarztes am Beispiel der Notfallversorgung konkret aus?
Gerlach: Künftig sollen Rettungsdienst und Ärztlicher Bereitschaftsdienst zusammengeschaltet werden, alle Notfälle werden in einer Integrierten Leitstelle (ILS) zusammengeführt. Hier werden Patientenanliegen angenommen und nach festen Algorithmen triagiert. Dabei geht es einerseits um Dringlichkeit, andererseits um Bedarf und – das ist neu – auch gleich die Steuerung in die richtige Versorgungsebene. In dem Gespräch findet bei Bedarf auch eine erste ärztliche – idealerweise hausärztliche – Einschätzung und Beratung statt.
Wir gehen davon aus, dass 30 Prozent aller Anrufe bereits durch diese telefonische Beratung geklärt werden können. Das kann etwa der Verweis auf Hausmittel oder Bettruhe bei einem grippalen Infekt sein. Alle gehfähigen, nicht lebensbedrohlichen Fälle erhalten einen Termin zur Vorstellung in einem Integrierten Notfallzentrum (INZ) – wo wiederum Ärzte, erneut idealerweise Hausärzte, sitzen und am sogenannten gemeinsamen Tresen ein zweites Mal triagieren: entweder in den Bereitschaftsdienst oder die Notaufnahme. Patienten, die nicht vorher anrufen, werden in der INZ zwar auch triagiert – kommen bei gleicher Dringlichkeit aber ans Ende der Warteliste.
Aufgrund ihrer Qualifikation sind die vom Sachverständigenrat eingeplanten „qualifizierten, primärversorgenden Hausärzte“ für diese Aufgabe prädestiniert. Andererseits ist die Arbeitslast in den Praxen bereits heute hoch, und der allgemeinmedizinische Nachwuchs fehlt an vielen Stellen.
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