Laut Barmer Arzneimittelreport 2018 erhalten mehr als 90 Prozent aller Versicherten über 80 Jahre dauerhaft fünf oder mehr Medikamente (= Multimedikation). Ursache dafür ist meistens Multimorbidität (= drei oder mehr chronische Erkrankungen), denn bei simpler Addition der Leitlinien für die einzelnen Erkrankungen ist die Zahl von fünf Wirkstoffen schnell überschritten.
Das Autorenteam der Leitlinie legt Wert darauf, dass es beim Deprescribing nicht darum geht, die Verordnungskosten zu senken, sondern das Behandlungsergebnis für die Patienten zu verbessern. Und: Trotz Multimedikation kann Unterversorgung bestehen, d.h. therapiebedürftige Erkrankungen oder Symp-tome werden nicht behandelt (z.B. kein Laxans trotz Dauermedikation mit stark wirksamen Opioiden).
Multimedikation ist daher per se nichts Negatives: Entscheidend ist nicht, wie viele Medikamente ein Patient erhält, sondern dass es die richtigen sind.
Die Leitlinie beschreibt das Verordnen und das Absetzen von Medikamenten als zyklischen Prozess, der wiederholt zu durchlaufen ist. Wichtige Schritte dabei sind:
- Bestandaufnahme und Bewertung,
- Abstimmung mit den Patienten (Shared Decision-Making),
- Vorschlag für Verordnung/Absetzen und gute Kommunikation,
- Monitoring/Follow-up.
Zielgruppe für Deprescribing
Zuerst müssen die Patienten erfasst werden, bei denen ein Medikationscheck (MC) als Vorbereitung eines möglichen Deprescribing dienen soll:
- Bei Patienten mit Multimedikation sollte mindestens einmal jährlich eine Bestandsaufnahme und Bewertung der Medikation erfolgen.
- Für einen allgemeinen MC können auch DMP-Termine oder der Gesundheits-Check-up genutzt werden.
- Ein anlassbezogener MC sollte immer erfolgen, wenn Patienten über ein neues Symptom berichten (siehe Kasten “Unspezifische UAW-Symptome”) sowie allgemein bei jeder wesentlichen Medikationsänderung.
- Bei einer neu hinzugekommenen Erkrankung ist zu prüfen, ob ein bisher verordnetes Medikament jetzt kontraindiziert ist oder ein wegen der neuen Erkrankung indizierter Wirkstoff aufgrund einer bisherigen Erkrankung nicht gegeben werden kann.
- Nach jedem größeren Sturzereignis.
- Nach einem Krankenhausaufenthalt (nach wie vor unbefriedigendes Entlassmanagement).
- Beim Erstkontakt.
Bestandsaufnahme
Für den MC sollten Vorerkrankungen und aktuelle Beschwerden, klinischer Status und Laborwerte – insbesondere für die Nierenfunktion – bekannt sein. Wenn erforderlich, sollten Angehörige (mit Zustimmung der Patienten) einbezogen werden. Selbstverständlich sollte ein aktueller und vollständiger Medikationsplan vorliegen.
Zentraler Schritt der Bestandsaufnahme ist eine strukturierte Bewertung der Medikation. Die Leitlinie empfiehlt hierfür den “Medikationsangemessenheitsindex” (Medication Appropriateness Index, MAI, siehe Tab. 1).