Kodierrichtlinien für ambulant tätige Ärzte kehren zurück auf die politische Bühne. Zuletzt hatte der Beirat des Bundesversicherungsamts (BVA) sich für Kodierrichtlinien ausgesprochen, um die 200 Milliarden Euro (pro Jahr) aus dem Gesundheitsfonds gerechter unter den Kassen zu verteilen (s. Kasten S. 28; s. Der Hausarzt 19)[1,2]. Würden ambulante Kodierrichtlinien (AKR) beschlossen, bräuchten Hausärzte künftig wohl deutlich mehr Zeit, um die Morbidität ihrer Patienten zu verschlüsseln, wie eine „Studie zur objektiven Messung der Kodierzeit“ [3] nahelegt. Das SGB V (Paragraf 295) schreibt vor, dass Ärzte Diagnosen nach ICD-10 verschlüsseln müssen, um ihre Leistungen abrechnen zu können. Nach mehreren Studien ist die Qualität der Kodierung nach ICD-10 aber fragwürdig [4, 5]. Darauf hatten auch Kassen wiederholt hingewiesen und eine höhere Diagnosequalität gefordert (s. Kasten S. 28).
Bisher liegen nur wenige systematische Untersuchungen zum Aufwand und zur Methode der Kodierung in der Praxis vor [6, 7, 8]. Daher sollte die „Studie zur objektiven Messung der Kodierzeit“ [3] die Frage klären: Bedeutet eine AKR mehr Aufwand gegenüber der bisherigen Art zu kodieren (ICD-10) oder im Vergleich zu einer ICPC-2-analogen, ICD-kompatiblen Diagnoseliste (CodA)? In einem bundesweiten Email-Forum wurden 32 Allgemeinpraxen rekrutiert. Sie kodierten eine Fallvignette einer typischen multimorbiden Patientin mit neun chronischen Diagnosen (nach C. Boyd) [9] auf drei Arten:
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wie bisher nach ICD-10,
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möglichst präzise (vergleichbar mit einer AKR) und
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mit einer Papier-Diagnoseliste entsprechend ICPC-2 (CodA) (s. auch Kasten S. 27).
Für jeden Kodiervorgang wurde die benötigte Zeit gemessen.
Präziser, aber zeitaufwändiger
Mit jeder der drei Methoden wählten die Ärzte für rund sieben der neun Diagnosen (80 Prozent) den korrekten Kode aus. Für Kassen ist besonders interessant, was die unterschiedliche Kodierung für die Zuweisung aus dem Gesundheitsfonds bedeutet (Abb. 1). Gemessen am maximal erreichbaren Diagnosewert (953 Euro) war die Kodierung nach AKR am präzisesten (809 Euro), gefolgt von CodA mit 694 Euro. Das bisherige Vorgehen erreichte 512 Euro.
Die Interessen der Kassen kollidieren allerdings mit denen der Praxen: Denn Genauigkeit braucht Zeit. Für die AKR mussten Ärzte, verglichen mit den anderen Methoden, mehr als dreimal so viel Zeit aufwenden (s. Abb. 2). So brauchten sie für eine Kodierung nach AKR etwa eine Minute (61 Sekunden), aber nur 17 Sekunden beim bisherigen Weg und 22 mit CodA. Die Messung des Zeitbedarfs korreliert mit einer anderen Untersuchung zur Kodierung: Danach benötigte ein Arzt pro Arbeitstag bei 50 Patienten eine halbe Stunde mehr Zeit, um Diagnosen nach einer AKR zu verschlüsseln [8].
Kommentar der Autoren
Der Bedarf an Hausärzten steigt. Schon jetzt ist die Zeit für Patienten knapp, obwohl Hausärzte in Deutschland sehr effizient arbeiten, verglichen mit dem OECD-Durchschnitt. Wie eine Studie [10] zeigt, behandeln Hausärzte hierzulande zwei bis drei Probleme pro Konsultation. Das gilt auch für Hausärzte anderer Länder (1,5 bis drei Probleme), sie brauchen dafür aber zwischen zwölf und 19 Minuten, während eine Konsultation hier im Schnitt sieben Minuten dauert.
Wer also eine AKR fordert, muss bedenken, dass Hausärzte deutlich mehr Zeit für diese „Bürokratie“ brauchen als jetzt. Dies kann nur zulasten der Patienten gehen. Denn um Zeit zu gewinnen, müssen Leistungen an anderer Stelle eingeschränkt werden – wo soll dies sein: bei der Versorgung akut oder chronisch Kranker oder der Prävention? Dieses nicht aufzulösende Dilemma dürfte ein Grund dafür gewesen sein, warum der Gesetzgeber 2012 die Ambulante Kodierrichtlinie wieder aus dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz [11] gestrichen hat. Auch die KBV hat 2016, nach einem Gutachten zur Diagnosegenauigkeit, erneut die AKR abgelehnt [12].
Zudem verbessert eine präzisere Kodierung nicht die Versorgung der Patienten. Erschwerend kommt hinzu, dass selbst der BVA-Beirat nicht überzeugt ist, dass eine AKR „manipulative Einflussnahme auf die Kodierung (…) grundsätzlich verhindern könne“. Man muss also fragen: Welchen Nutzen hätte eine AKR dann noch? Sie würde lediglich dazu führen, dass die Kassenbürokratie für niedergelassene Ärzte zunimmt – dagegen müssen wir uns wehren!
Fazit
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Ambulante Kodierrichtlinien (AKR) sind wieder in der Diskussion – vor allem Krankenkassen und der Beirat des Bundesversicherungsamts erhoffen sich davon, dass die Gelder im Gesundheitswesen gemäß der Morbidität der Versicherten besser verteilt werden können.
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Für eine erhöhte Präzision der Kodierung ist erheblicher Aufwand der Ärzte nötig. Die Verwendung einer AKR verdreifacht den Zeitaufwand pro Kode. Diese Zeit muss an anderer Stelle eingespart werden – die Politik muss benennen, wo.
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Eine Liste von hausarzttypischen Diagnosen (ICPC-2) könnte eine zeitsparende Alternative zur AKR sein.
Verwendete Kodiermethoden
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Um wie bisher nach ICD-10 zu verschlüsseln, konnten die teilnehmenden Ärzte beliebig vorgehen, also zum Beispiel auch Kürzel in ihrer Praxis-EDV verwenden. Die ICD-10 ist nur nach Organsystem-Kapiteln gegliedert.
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Bei der zweiten Methode sollten die Ärzte möglichst präzise kodieren. Dafür wurde im Praxisverwaltungssystem die Einstellung AKR aktiviert, damit akzeptiert es keine unvollständigen oder unspezifischen ICD-Kodes wie „…nicht näher bezeichnet“.
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Die ICPC-2 wurde speziell für die Primärversorgung entwickelt und wird international verwendet. Sie zielt darauf ab, Beratungsanlässe zu beschreiben, nicht nur wie die ICD-10 Diagnosen. Die in der Studie eingesetzte Papierliste „CodA“ nutzt die Systematik der für Deutschland angepassten ICPC-2. Auch die Kode-Sammlung der ICPC-2 ist in Kapitel gegliedert wie die ICD. Eine Besonderheit ist aber, dass die Kapitel in Kategorien wie Symptome, Verletzungen, Neubildungen oder Infektionen unterteilt sind.
Morbi-RSA
Etwa die Hälfte der Mittel aus dem Gesundheitsfonds wird aufgrund der Morbidität der Versicherten verteilt, dieser Mechanismus heißt morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA). Sehr vereinfacht gesagt, je nachdem wie krank ein Versicherter ist, erhält seine Krankenkasse mehr oder weniger Geld aus dem Fonds. Die Morbidität eines Versicherten erfasst der behandelnde Arzt als ICD-Kode. 80 ausgewählte Krankheiten werden bei dem Finanzausgleich unter den Kassen derzeit besonders berücksichtigt (morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich): Es ist für eine Kasse beispielsweise attraktiver, wenn ein chronisches LWS-Syndrom als chronisches Schmerzsyndrom verschlüsselt wird. Die ärztliche Versorgung dieses Patienten verändert sich dadurch aber nicht.
Interessenkonflikt: Beide Autoren sind Hausärzte in der vertragsärztlichen Versorgung.
Lesen Sie dazu auch: Kommentar: "AKR sind für Hausärzte untauglich"
Literatur
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- Florian Staek Morbi-RSA – Streit um Geld und Diagnosen Ärzte Zeitung online, 19.10.2017. https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/krankenkassen/article/945743/neue-regeln-morbi-rsa-geld-kranke-weniger-gesunde.html (besucht am 31.10.2017)
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- Maybaum, Thorsten. Risikostrukturausgleich: Schärfere Vorgaben für Selektivverträge. Dtsch Arztebl 2017; 114(43): A-1957 / B-1655 / C-1621
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- Claus C, Bösner S, Donner-Banzhoff N., Popert U Wie viel Zeit kostet Kodierung objektiv? Boyd-Fallvignette zum Vergleich von AKR und CodA-Liste, ZFA, im Druck
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- Erler A et al., Garbage in – Garbage out? Gesundheitswesen 2009; 71:
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- Wockenfuss R et al., Three and four-digit ICD-10 is not a reliable classification system in primary care, Scandinavian Journal of Primary Health Care, 2009; 27(3)
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- Auswertung des bayrischen AKR-Pilotversuches, Aussendung an die Mitglieder der KBV-VV am 13.11.2010
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- Claus C et al, Diagnosen-Kodierung in der hausärztlichen Praxis, Z Allg Med | 2011; 87 (2)
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- Popert U et al, 2011b. Wer braucht wie viel Zeit zur Kodierung? HEISA 1+2: Befragung 1.818 hessischer Arztpraxen. http://www.egms.de/static/en/meetings/fom2011/11fom156.shtml (Zitat vom: 29. Mai 2014)
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- Claus C, Popert U, Bösner S und Donner-Banzhoff N, 2011b. Wie viel Zeit kostet Kodierung objektiv – Boyd-Fallvignette zum Vergleich von AKR und CodA-Liste. http://www.egms.de/static/en/meetings/fom2011/11fom170.shtml (Zitat vom: 28. Dezember 2013)
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- Tobert V, Popert U. „Multitasking“ and complex patient encounters in family medicine. Z Allg Med 2017; 93: 222–226
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- Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstrukturgesetz –GKV-VStG) Bundesgesetzblatt Jahrgang 2011 Teil I Nr. 70, ausgegeben zu Bonn am 28. Dezember 2011
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- Beerheide B. Kodieren in der Praxis: „Die ärztliche Sicht kommt zu kurz“ Dtsch Arztebl 2016; 113(20): A-970 / B-819 / C-803